Wirkungsvolle Jugendhilfe Hamburg

Sonntag, 21. August 2011

Aspekt 3


„Die Rückgewinnung der kommunalen Steuerungsmacht“ oder die
Wiedergewinnung kommunalpolitischer Handlungsfähigkeit zur Ausgestaltung von Jugendhilfeleistungen.

Diese Wortkreation entstammt nicht der Feder des hier publizierenden Betrachters. Vielmehr gibt es diese Überschrift nachzulesen in dem (geheimen) Papier der A-Staatsräte vom 13.05. 2011 in Berlin. So wenden sich die Staatsräte Berlins, Hamburgs und Bremens dem Thema der Jugendhilfe zu. Dabei wird einleitend schon eine Verdrehung von Tatbeständen genutzt, um sogleich das Ziel zu fundamentieren:

„Die Ausgestaltung des Hilfeangebots als individueller Rechtsanspruch und die starke Stellung freier Träger bei der Ausgestaltung des Hilfeangebots macht dieses System immer teurer.“ (s. Staatsrätepapier)

Bereits im Ansatz muss man sehr genau aufpassen, um die Taktik bei einer solchen Argumentation zu verstehen. Weder die Inanspruchnahme von Hilfen, noch die Stellung freier Träger bedingen die steigenden Kosten. Vielmehr sorgen die Organisation der Gesellschaft in Form von Politik (Wirtschafts-, Sozial- und Familienpolitik etc.) für eine stetige Teilung der Gesellschaft in Arm und Reich.[1] Sozialgesetze werden schließlich nicht als eventualen Anspruch oder als Präventionsansatz verstanden sondern vielmehr als gewusstes Ergebnis der Menschensortierung, welche die Politik ganz willentlich in diesem Lande vornimmt!
Im Einzelnen: Hintergrund des individuellen Rechtsanspruches, ist die ehemals politisch- gesellschaftliche Vorstellung eines Landes mit Werten wie soziale Sicherheit und Solidarverständnis zwischen Reich und Arm. Macht man jetzt eben dieses verantwortlich für Mehrkosten so verrät das den generellen Paradigmenwechsel welcher sich, mindestens in der politischen Führungsetage, vollzogen hat. Nun soll sich gerade diese damalige Errungenschaft heute als hinderlich oder gar gefährlich erweisen.
Die Stellung der freien Träger bei der Ausgestaltung des Hilfeangebotes ist alles andere als eine starke. Lediglich wenn man „Mitreden“ als schon (zu) starke Position verkennt, kann man auf die Idee kommen dieses in Frage zu stellen. In diesem Falle setzen die Staatsräte natürlich argumentativ an der Stelle an, um den Weg zu bahnen für eine durch und durch staatliche Eingriffsverwaltung. Gerade die Rücknahme staatlichen Handelns zu Gunsten freier Träger[2] (als Vertreter der Klienten) und dieses als Ausdruck des ernstgemeinten Bürgerrechtes, war zwei Jahrzehntelang Vorzeigeerrungenschaft – gerade als gewollte Signalwirkung an die neuen Bundesbürger.[3] Heute versündigt sich alles was Geld kostet.

Gleichzeitig ist festzustellen, dass die zusätzlichen Mittel nicht in entsprechenden Umfang zu einer Verbesserung der Situation von förderungsbedürftigen und Bildungsbenachteiligung betroffenen Kindern und Jugendlichen geführt hat. Vielmehr ist ein kaum noch zu steuerndes Angebot unterschiedlicher Einzelhilfen zu beobachten, die nur im Ausnahmefall, mit den Regeleinrichtungen der Frühen Hilfen, der Kindertagesbetreuung oder den Schulen verbunden sind.“ (s. Staatsrätepapier)

Fehlgeleitet wird den ambulanten Hilfen zur Erziehung hier unterstellt, sie hätten zur Aufgabe für einen Abbau von Förderungsbedürftigkeit und Bildungsbenachteiligung zu sorgen. Dieses Intro der Staatsräte verrät die völlige Fehleinschätzung des Bedarfes am „Jugendhilfemarkt“. Des Weiteren scheint hier eine gewaltige Wissenslücke über die Konzeption des SGB VIII vorzuherrschen.  Die ambulanten Hilfen zur Erziehung sind weder von dem Weg ihrer Inanspruchnahme, noch von ihrer Ausstattung her in der Lage, präventiv oder geschweige denn allgemein zu wirken. Wichtig ist zu begreifen, dass die Sozialpädagogische Familienhilfe (gem. §§27/31 SGB VIII, SPFH) ausgerichtet ist als eine Hilfemaßnahme, die angesichts der Komplexität von ineinander verschränkten Problemlagen bei den Familien, adäquat zu reagieren versucht.

„Im Jahr 2007 haben insgesamt 63.670 Familien, in denen 137.472 junge Menschen leben, die SPFH in Anspruch genommen. Erhielten 1997 noch 17 von 10.000 Familien mit Kindern Unterstützung durch die SPFH, so waren es nur zehn Jahre später (2007) schon 52 von 10.000 Familien mit Kindern. Seit der Einführung des SGB VIII hat die SPFH damit den stärksten Zuwachs aller ambulanten Erziehungshilfen zu verzeichnen. Sie ist – neben der Erziehungsberatung – die bedeutendste ambulante HzE-Intervention.“[4]

Ein zentraler Auftrag der SPFH ist der Schutz von Minderjährigen so wie er im §8a SGB VIII beschrieben wird.
Der § 8a SGB VIII ist eine Verfahrensvorschrift, die das Jugendamt zur Einschätzung des Gefährdungsrisikos und zur Entscheidung über notwendige Maßnahmen bei Kindeswohlgefährdung verpflichtet. Der Beteiligung der Betroffenen wird ein hoher Stellenwert eingeräumt. Alle Träger und Institutionen, die Leistungen nach dem SGB VIII erbringen, sind zur Wahrnehmung des Schutzauftrages verpflichtet.
Dieses Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- & Jugendhilfe (KICK) trägt maßgeblich zum Ausbau des Schutzauftrages bei. Durch diverse Fälle von Kindesvernachlässigungen mit Todesfolge wurde das Thema stärker in das öffentliche Bewusstsein gehoben. Kausal damit verbunden ist der zahlenmäßige Anstieg der Kosten in den Hilfen zur Erziehung. Die Kosten für die Fachleistungsstunde und damit die Löhne für Sozialpädagogen wurden gemessen an der allgemeinen Preissteigerung abgesenkt, ungeachtet der Tatsache, dass durch die Erweiterung des Schutzauftrages die Verantwortung und persönliche Haftbarkeit der Helfer weiter angestiegen ist.

Weiter mit dem Staatsratspapier:
„Zugleich gibt es zahlreiche fachliche Hinweise, dass die Angebotsform, die im Regelfall dazu führt, dass Familien zu Hause durch sozialpädagogische Fachkräfte eines freien Trägers aufgesucht werden, um deren Erziehungsfähigkeit zu stärken, in sehr vielen Fällen ins Leere läuft.“

Interessant ist hier, dass die „zahlreichen fachlichen Hinweise“ durch fehlende Quellenangaben weder qualitativ noch quantitativ belegt werden. Eine Behauptung aus dem hohlen Bauch? Unerwähnt bleiben hier auch die unterschiedlichen Problemebenen, bei der eine SPFH die Familie unterstützen soll. Die Stärkung der Erziehungsfähigkeit steht in vielen Hilfeplänen an letzter Stelle, da viele Familien in Fragen der Grundversorgung Hilfe benötigen. Hier ist somit der eigentlich „kranke“ Aspekt zu beklagen, dass unser Sozialhilfesystem damit kalkuliert, betroffene Menschen hinsichtlich ihrer Rechte im Dunkeln zu lassen. So erhalten sie hierüber bei den entsprechenden Stellen weder Aufklärung, noch Unterstützung bei der Inanspruchnahme der Leistungen. Folglich erscheint es ein von „Oben“ gemachtes Problem zu sein, dass pädagogisch Tätige zunächst Hilfe  beim Ausfüllen von Arge-Anträgen oder Wohnungsdringlichkeitsscheinen, Formulieren von Widersprüchen, beantragen von Stiftungsgeldern etc. behilflich sein müssen, bevor Eltern sich damit auseinandersetzen können, wie sie ihr Erziehungsverhalten ändern. Der Kommentar suggeriert hingegen ein Versagen der Helferinnen, was die Verantwortung von denen, die sie eigentlich übernehmen müssten, fern hält und somit die Arbeit der Helferinnen mit Füßen tritt. 

Die örtlich vorhandenen Kenntnisse über sozialräumliche Alternativen, die wirksamer und kostengünstiger sind, können in vielen Kommunen nicht bedarfsgerecht ausgebaut werden oder unterliegen sogar Konsolidierungszwängen, weil sie als freiwillige Leistungen finanzpolitisch nachrangig gegenüber den gesetzlichen Leistungen der Hilfen zur Erziehung rangieren.“ (s. Staatsrätepapier)

Allzu gerne führen die Vertreter der öffentlichen Verwaltung die freiwilligen Leistungen immer dann ins Feld, wenn argumentativ nichts mehr bleibt. Genau genommen liegt in dieser Formulierung die Erpressung schlechthin. Verheimlicht bleibt nämlich, dass der Bereich der sogenannten freiwilligen Leistungen (Jugendzentren, offene Angebote der Kinder und Jugendarbeit) in den Vorjahren mehr als stiefmütterlich behandelt wurden und ebenfalls schlecht ausgestattet ihre Arbeit verrichten. Dieses jetzt aber in Konkurrenz zu anderen Leistungen des SGB VIII zu stellen, kann an Frechheit nicht mehr überboten werden. Weder sind die Haushaltstitel untereinander deckungsfähig, noch verdankt sich die Gesamtsumme der jeweils Einzelnen. Wollte man eine Auskömmlichkeit, so bräuchte es den politischen Verteilungswillen dazu. Das SGB VIII stellt beide Bereiche als wichtig nebeneinander (primäre, sekundäre und tertiäre Prävention), wonach beide Bereiche entsprechend der Bedarfe ausreichend ausgestattet werden müssten. Um die Früchte der primären Prävention – gerne nimmt man hier die Überschrift „Frühe Hilfen“ – ernten zu können, braucht es weit mehr Zeit, nämlich die mindestens einer Generation! Gleiches gilt für die Hilfeempfänger im Rahmen der höheren Präventionsebenen, da bereits entstandene Schäden bei den Kindern und Jugendlichen erst mühsam versorgt werden müssen. Hierzu bedarf es allerdings der Mitarbeit der Eltern, die Aufgrund ihrer vom Mangel gezeichneten Biographie ihr Kind „lieber“ in die Hände von Psychotherapeuten oder gar Psychiatern geben. Dass der Beziehungsaufbau und das Hinwirken auf die eigene Problemeinsicht eine verbindliche Kontinuität und ein Zusammenwirken aller beteiligten Systeme Zeit (=Geld) braucht, wird in der gesamten politischen Ausführung unterschlagen.
Auch fehlen in dem Staatsrätepapier entsprechende Verweise auf Studien, die belegen, dass „sozialräumliche Alternativen wirksamer und kostengünstiger“ sind. Die mangelnde Inanspruchnahme von niedrigschwelligen Angeboten seitens mehrfach belasteter Familien wird hier ebenso wenig angeführt. Niemand scheint hier die Strukturen von Multiproblemfamilien mit zu bedenken, die oftmals schon seit mehreren Generationen im Sozialhilfesystem hängen, weil die Betroffenen nie gelernt haben auf wirkliche Hilfe zu vertrauen.



[1] Wobei „Arm nicht gleich bedürftig“ bedeutet!
[2] S. hierzu „Subsidiaritätsprinzip“, Wikipedia
[3] S. Bericht Florian Bode auf diesem Blog
[4] Aus „Entwicklungen in den ambulanten Hilfen zur Erziehung“, Anja Flindt 2010© 2010 Deutsches Jugendinstitut e.V.

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