Prof. Dr. Knut Hinrichs, Hamburg:
Der „Sachzwang“, im Sozialbereich zu sparen und
die Rechtsbindung der Jugendhilfe
(standpunkt : sozial, Heft 2/2010)
A. Einleitung
Jedermann weiß es: die öffentlichen Haushalte sind gegenwärtig in einem desolaten Zustand. Im Bund sollen durch ein Sparpaket in einem bis jetzt nicht gekanntem Ausmaß etwa 80 Milliarden Euro bis 2014 eingespart werden.
In Hamburg fehlen Ende Mai 500 Millionen EUR
, die durch entsprechende Sparmaßnahmen bis 2012 kompensiert werden sollen.
Dieser Beitrag soll ein paar Schlaglichter auf die Gründe werfen, die dazu führen, dass vor allem der Sozialbereich im Visier der Sparpolitik steht. Und er soll erläutern, inwiefern die Sparpolitik notwendigerweise in Konflikt mit der Rechtsbindung der Sozialleistungsträger, hier der öffentlichen Jugendhilfeträger, gerät.
B. Ausgangspunkt: Sozialpolitik ist immer zu teuer
Jedem politisch interessierten Zeitgenossen ist sofort klar, dass die in Aussicht gestellten Kürzungen in erster Linie den Sozialbereich betreffen. Es bedarf gar nicht einer ausdrücklichen Vermittlung des Gedankens, dass hier angebliche Sachzwänge regieren. Die gängigen Argumente brauchen bloß „angetippt“ werden, damit alle Welt Bescheid weiß: Wir als Exportnation sind darauf angewiesen, dass die Lohn- und Lohnnebenkosten niedrig bleiben oder weiter gesenkt werden müssen; Gewinne müssen dagegen möglichst steigen, weil davon – letztlich – auch die Arbeitnehmer abhängen. Weiter müssen die Banken mit noch nie gesehener Staatsverschuldung gerettet werden, weil von ihrer Fähigkeit, Kredit zu schöpfen, jedes Geschäft in Hamburg, Deutschland und der Welt abhängig ist. Zugleich muss die Staatsverschuldung durch Kürzungen im Sozialbereich, gesenkt werden, damit kommende Generationen nicht dafür aufkommen müssen, dass wir über unsere Verhältnisse leben.
An diesen widersprüchlichen Befunden – einmal müssen
Einkommen sinken, einmal müssen sie
steigen; einmal müssen
Ausgaben sinken, einmal müssen sie
steigen – fällt auf, wie sehr die moderne kapitalistische Gesellschaft sich dem Ziel des
Wirtschaftswachstums verschrieben hat. Denn dies ist der Maßstab, der angelegt wird, um einmal ein Sinken, einmal ein Steigen der genannten Größen als notwendig zu behaupten. Und diesem Maßstab folgen auch die
Staatsausgaben die offenbar eine Hierarchie kennen, die der Zwecksetzung der zu finanzierenden Aufgaben folgt.
Ein paar Beispiele verdeutlichen dies: Staatsausgaben, die sich tendenziell positiv auf das Wirtschaftswachstum auswirken, oder jetzt in Zeiten der Krise, Banken und produzierendes Gewerbe vor Zusammenbrüchen bewahren sollen, sind – wegen ihrer „systemischen Bedeutung“ – offenbar die wichtigsten. Verkehrsverbindungen und Infrastruktur braucht die Wirtschaft, fehlende Breitband-Verbindungen auf dem Land sind ein KO-Kriterium für den Standort. Ausgaben für die Verwaltung, die innere Sicherheit, die Justiz, usw. sind unverzichtbar, da es sich hier um den herrschaftlichen Rahmen einer Marktwirtschaft und ihres staatlichen Garanten handelt, der seinerseits aus dem privat bilanzierten Wirtschaftswachstum die Quellen seiner politischen Macht bezieht. Die braucht er im Verhältnis zu seinen Konkurrenten, denen gegenüber er um mehr internationales Gewicht ringt: auch mit teurem, aber unersetzlichem Kriegsgerät und seiner Truppe. Einsparungen dürfen keinesfalls die Bündnisfähigkeit Deutschlands gefährden, dies wäre „Sicherheitspolitik nach Kassenlage“.
Auch Kultur und Sport finanziert der Staat, überprüft dabei jedoch genau, inwiefern solche Ausgaben seinem Renommee bzw. der Pflege des nationalen „Wir“ zu Gute kommen. In diesem Sinne erscheinen dann die Kosten z. B. für die neue Elbphilharmonie oder die Kosten für den neuen Vertrag mit Joachim Löw als lohnende Kosten; diejenigen, die für Kulturprojekte oder eine kommunale Schwimmhalle anfallen dagegen eher als verzichtbare Unkosten. Bei Bildung und Wissenschaft kommt es darauf an: einerseits sind diese Ausgaben sehr notwendig, nämlich insoweit, als durch sie allgemeine Bedingungen des Wirtschaftswachstums hergestellt werden: Um im Weltmaßstab erfolgreich zu sein und zu bleiben, müssen innovative Produkte zu weltmeisterlichen Gestehungskosten von dafür ausgebildeten Arbeitskräften produziert werden können. Für all dies ist Bildung und Wissenschaft einschließlich der Fähigkeit, Lesen, Schreiben, die Grundrechnungsarten zu beherrschen, unabdingbar. Andererseits verbergen sich in diesen Kosten auch solche Bestandteile, die sich nicht ohne weiteres in gute Bedingungen des Wirtschaftswachstums ummünzen lassen: Die sittliche Bildung von Bevölkerungsteilen, die von der Wirtschaft gar nicht mehr und in dem Umfang nachgefragt werden, verschiebt die Beurteilung dieser Kosten eher in den Bereich des Sozialen.
Und damit ist man bei dem Posten angelangt, dessen Wichtigkeit von der Politik zwar stets behauptet, dann jedoch zielführend dementiert wird: dem Bereich des Sozialen. Das Dementi erfolgt dabei sehr grundsätzlich: Sozialausgaben werden nämlich gerne als „Wohltaten“ bezeichnet, „die wir uns nicht mehr leisten können“. Die Politik spricht damit etwas umständlich aus, dass sie Sozialausgaben für „zu teuer“ hält im Unterschied zu den unverzichtbaren sonstigen Staatsausgaben, die folgerichtig auch nicht als Wohltaten bezeichnet werden.
Allerdings werden auch nicht alle Sozialausgaben als Wohltaten bezeichnet. Sie stehen jedoch ständig im Verdacht, Wohltaten zu sein. Damit sind vor allem diejenigen Sozialausgaben gemeint, die bloß in den Lebensunterhalt und die Lebensführung der Menschen eingehen, die auf diese Leistungen angewiesen sind. Sie heißen deshalb auch „konsumtive“ Staatsausgaben. Diese führen nicht zu mehr Wachstum, tragen also nicht zum Gemeinwohl der marktwirtschaftlichen Ordnung bei und müssen sich folgerichtig permanent darauf befragen lassen, inwiefern sie nicht gleichwohl notwendige Bedingung des Wachstums oder letztlich doch verzichtbar sind.
Dies zeigt, wie sehr auch die Ausgaben für das Soziale unter den Zweck des Wirtschaftswachstums praktisch subsumiert sind, letztlich ihm zu dienen haben. Wenn sie dafür keine positive Wirkung versprechen, stehen sie auf dem Prüfstand. Dieser Standpunkt schließt dann als Extrempunkt z.B. auch ein, dass
vor allem bei Hartz IV-Empfängern zu sparen ist, also bei jenen Menschen, deren Lebensunterhalt von der Wirtschaft gestrichen wurde und die keinerlei Aussicht mehr darauf haben, wieder von einem Lohn leben zu können. Die Sozialkosten für diese Personengruppe lohnen sich am wenigsten, Kürzungen drängen sich der Politik daher am meisten auf.
Der soziale Bereich insgesamt ist also knapp zu halten, während andere, „investive“ Staatsausgaben gut angelegt erscheinen. Damit soll nicht gesagt sein, dass dort nicht auch mit dem Standpunkt besserer Effizienz um Einsparungen gerungen wird. Aber wenn man beide Staatsausgaben nebeneinander stellt, erscheint es stets als ein Sachzwang, das Geschäft zu befördern und Sozialausgaben zu kürzen: Sozialpolitik kann nur das ausgeben, was zuvor – in der Wirtschaft, wo sonst? – verdient wurde. Es gibt kaum eine poltische Debatte, in der nicht diese Sachzwang-Logik bemüht wird. Sie vermittelt die Generalabsolution für jede alte oder neue Härte, die den Menschen präsentiert wird. Allerdings: Es ist dies der Sachzwang der modernen kapitalistischen Gesellschaften, und zwar wegen der Sache, die erst politisch gewollt ist und dann zu lauter Maßnahmen zwingt: wachsender Reichtum in privater Hand und ein politisches Gemeinwesen, das seine Gesellschaft hierfür bis in den letzten Winkel dienstbar gemacht hat – um sich dann mittels Steuern und Verschuldung an diesen Erträgen für seine Vorhaben zu bedienen.
Fest steht damit eines: In der Hierarchie staatlicher Ausgaben stehen die Sozialausgaben ganz unten. Sie kommen bei staatlichen Sparprogrammen als erstes in den Blick und stehen unter dem größten Rechtfertigungsdruck.
C. Erwartungen an das Recht zur Sicherung sozialer Leistungen
All jene, die mit der Kürzung von Sozialleistungen unzufrieden sind, sind es gewohnt, der Politik das
Sozialstaatsprinzip entgegenzuhalten. Denn, so kann man fragen, bei allem Sparwillen und aller Entschlossenheit, den Sozialstaat zu einem immer besseren Ensemble guter Bedingungen für das Wirtschaftswachstum am Standort Deutschland
weiterzuentwickeln – gilt nicht das verfassungsrechtlich verbürgte Sozialstaatsgebot nach Art. 20 Abs. 1 GG? Danach soll doch der Staat nicht bei der formellen Rechtsstaatlichkeit stehen bleiben, sondern auch
soziale Gerechtigkeit verwirklichen.
Auf Sozialleistungen haben die Bürger doch im Regelfall Rechtsansprüche, vgl. § 38 SGB I, sodass sie die Leistungen im Zweifel einklagen können. Hierfür steht eine nach Art. 19 Abs. 4 GG garantierte Sozial- und Verwaltungsgerichtsbarkeit zur Verfügung, die die Behörden dazu zwingt, das Sozialrecht richtig anzuwenden. Darüber hinaus kann der Bürger auch das Bundesverfassungsgericht anrufen oder er und sein Interesse werden durch eine entsprechende Richtervorlage zum Gegenstand einer verfassungsrechtlichen Prüfung der von der Verwaltung angewandten Normen – wie jetzt bei der Überprüfung der Hartz-IV-Regelsätze.
Allerdings: Diesen rechtlichen Schutz haben bedürftige Bürger auch durchaus nötig, denn bei den Sozialleistungsträgern werden die durch die Politik vorgegebenen Sparvorgaben mit allen zulässigen und bisweilen eben auch unzulässigen Mitteln gegenüber den Betroffenen um- und durchgesetzt und manchmal steht sogar das zu Grunde liegende Gesetz im Widerspruch zur Verfassung – wie das SGB II hinsichtlich der schon angesprochenen Hartz-IV-Regelsätze.
Es bleibt also zu fragen, welchen Schutz das Recht für soziale Leistungen bereit hält. Im Folgenden soll am Beispiel der Jugendhilfe gezeigt werden, dass diese keine Wohltaten für die Betroffenen bereithält, sondern notwendig ist zur Sicherung der Institution Familie und ihrer Leistungen; dass ihr aber von der Sparpolitik ständig der Verdacht entgegengebracht wird, sie sei zumindest in Teilen überflüssig für das Allgemeinwohl. Sodann ist zu fragen: Wie verhält sich die Justiz als Kontrollmacht des Sozialstaats zu diesem Konflikt? Verfolgt sie in ihren Entscheidungen soziale Gerechtigkeit? Schließlich soll ein Blick auf neuere Entwicklungen innerhalb der Rechtsprechung eingegangen werden.
I. Jugendhilfe und ASD als Paradefall für den Konflikt von Sparprogramm und rechtlicher Garantie sozialer Leistungen
Auch in der Jugendhilfe zeigt sich der Konflikt zwischen dem Ziel eines möglichst groß ausfallenden Wirtschaftswachstums mit der daran hängenden Sorge um die Geldwertstabilität einerseits und dem staatlichen Ziel der Sicherung des familialen Aufwachsens von Kindern. Welcher Problemlage der Familien sieht sich der ASD gegenüber?
1. Die Lage in den 2000er-Jahren
Schauen wir zurück in die letzte Dekade, ergibt sich folgendes Bild: Das Wirtschaftswachstum gebietet die Senkung der Lohn- und Lohnnebenkosten, sowie eine Senkung der Kosten für die Betreuung der Langzeitarbeitslosen bei gleichzeitiger Effektivierung der Vermittlung zu für die Arbeitnehmer schlechteren Bedingungen, dies war der überparteiliche Konsens der Agenda 2010 aus dem Jahre 2003. Viele Menschen haben keinen Lebensunterhalt, sie beziehen nun Hartz IV, weil in den Unternehmen mit weniger Beschäftigten erfolgreich mehr Gewinn produziert wird. Angestrebtes Resultat der Reformen war sehr schnell die Etablierung eines Niedriglohnsektors, in dem es zum Überleben kaum reicht, sodass mehr Menschen als früher, sogar mehr Menschen als erwartet, Arbeitslosengeld II und Sozialgeld benötigen, um durch Aufstockung über die Runden zu kommen. Auch die „normalen“ Lohnabhängigen müssen erheblich Einkommenseinbußen hinnehmen. Auf jeden Fall müssen sie länger am Tag und im Leben arbeiten. Und die Arbeit selbst wir härter.
Privatleben und Familie sind für die Menschen das wichtigste im Leben.
Trotz all der realen Widrigkeiten des Erwerbslebens, die es der Sache nach nahelegen, der eigenen misslichen ökonomischen Situation auf den Grund zu gehen, erhoffen sich die Menschen in der Familie einen
Ausgleich, eine Kompensation ihrer prekären Lebenssituation. Der zeitliche, räumliche und materielle Rahmen für diese Kompensationsleistung der Familie ist allerdings von den Unternehmen und einer Politik, die sich für wirtschaftliche Sachzwänge mehr als einsichtig gezeigt hat, konsequent reduziert worden
– siehe oben. Immer mehr fehlt es bei den Menschen an dem, was man zur Bewältigung des familialen Alltags braucht. Die Geldnot vieler Familien verlangt von den Eltern Verzichtsanstrengungen, die mittels elterlicher Sorge auch gegenüber den Kindern durchgesetzt werden müssen. Die Anforderungen moderner, für den einzelnen möglicherweise sogar mehrerer Arbeitsplätze, nagen an der Zeit, die für die Familie und das Privatleben bleibt. Schon dieser materielle Mangel an finanziellen und zeitlichen Ressourcen führt zu – seelisch oder körperlich wirkenden – gewaltsamen Erziehungsmethoden, zur Vernachlässigung der Kinder, zu chronischer Überforderung der Familien. Gleichzeitig nehmen die Anforderungen an die Kinder zu: nur stellvertretend sei die Verkürzung der Schulzeit zum Erwerb des Abiturs unter Beibehaltung der früheren Stofffülle genannt, ein Umstand, der von den Eltern verlangt, mehr oder weniger regulär Nachhilfeunterricht für ihre Kinder zu geben. Fast banal zu erwähnen, dass diese Aufgabe Akademikerfamilien leichter fällt als anderen Eltern; zumal bei ersteren im Zweifel die materiellen Ressourcen für das Auffangen von Bildungsdefiziten vorhanden sind. Auch die Konkurrenzbedingungen für das Privatleben werden also härter.
Neben diesen materiellen Einbußen und den durch sie bedingten Mangellagen und Fehlentwicklungen in den Familien zeigt sich aber mit schwieriger werdender materieller Lage um so radikaler, dass der Wunsch nach familiärer Kompensation der im bürgerlichen Wettbewerb erlittenen Schäden nicht aufgeht, weil er nicht aufgehen kann. Wie soll eine Liebesbeziehung – auch wenn sie gelingt – über zunehmende Armut oder eine schlechte Wohnung oder Überarbeitung hinweghelfen? Dies sind für sich genommen inkommensurable Größen, die von den Betroffenen gleichwohl zusammengeschlossen werden – moralisch angeleitet durch eine Öffentlichkeit, die nichts selbstverständlicher findet als dies. Fatalerweise wird durch die Indienstnahme des familiären Privatlebens für die erhoffte Kompensation das Privatleben selbst prekär. Denn die modernen Familienmitglieder haben sich längst daran gewöhnt, ihre Kompensationswünsche in Rechtsansprüche auf Entschädigung zu verwandeln, die umso erbitterter geltend gemacht werden, je weniger sie aufgehen: Gewalt gegen Frauen und Kinder wegen Nichterfüllung eingeforderter Glückserfüllung und Anerkennung ist an der Tagesordnung; verletzte Ehre wird im privaten Kampf ums Glück gegen rivalisierende Verwandte und Freunde eingesetzt; meist die eigenen Kinder sind Opfer von seelischen Verletzungen oder sexuellen Übergriffen. Verwahrlosung und Elend bestimmen den Alltag vieler Kinder und Jugendlichen, die dabei, wiederum angeleitet durch das Ideal von Selbstverwirklichung in der Konkurrenz, selbst verrohen und durch wachsende Jugendkriminalität in einem bis jetzt nicht gekannten Ausmaß auf sich aufmerksam machen. Ergänzt wird dieses Bild durch eine wachsende Zahl psychischer Erkrankungen, die ihrerseits zu den Risikofaktoren für Kinder zählen und im Wirrwarr familiärer Ansprüche reiche Nahrung finden.
Eine begriffliche Überlegung bestätigt also das empirische Bild
:
mit wachsender Verarmung der Bevölkerung steigen die Jugendhilfebedarfe seit Jahren kontinuierlich an.
2. Der gesetzliche Auftrag des Jugendamtes und des ASD
Der ASD als zentrale Stelle des Jugendamtes reagiert auf diese Bedarfslage nach dem zu Grunde liegenden SGB VIII mit einer funktionalen Verknüpfung von Hilfe und Kontrolle. Dabei beruht die helfende Seite auf dem Prinzip der Freiwilligkeit. Vor allem die Eltern werden präventiv gefördert durch Unterstützung und Beratung (§§ 16 ff. SGB VIII), es wird versucht, sie durch sozialpädagogische, beraterische und therapeutische Dienstleistungen in den Stand zu versetzen, die ihnen rechtlich zugewiesenen Elternverantwortung (Art. 6 GG, §§ 1626 ff. BGB) wieder, oder überhaupt wahrzunehmen (§§ 27 ff. SGB VIII). Die kontrollierende Seite, die im Hinterkopf des handelnden Sozialarbeiters/der Sozialarbeiterin stets präsent ist, besteht zunächst in der Verfahrensherrschaft des ASD mit dem Inhalt, bei möglicherweise vorliegenden Kindeswohlgefährdungen (§ 8a SGB VIII) das Familiengericht anzurufen, welches dann, bei drohenden oder manifesten Kindeswohlgefährdungen (§ 1666 BGB) Eingriffe in das elterliche Sorgerecht vornimmt. In Eilfällen darf das Jugendamt, meist in Gestalt des Kinder- und Jugendnotdienstes diese Eingriffe vorläufig selbst vornehmen, § 42 SGB VIII.
Leistungen und Eingriffe zielen insgesamt darauf ab, die Eltern dazu anzuhalten, die Kinder zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähige Persönlichkeit (§ 1 Abs. 1 SGB VIII) zu erziehen, sich also der Bewältigung des Alltags mit all seinen schlechten Bedingungen zu widmen und dabei die Opferbereitschaft aufzubringen, die Kinder trotz dieser schlechten Bedingungen gut zu erziehen. Wo dies nicht mehr möglich ist, steht ein Entzug der elterlichen Sorge bzw. deren staatlicher Ersatz an. Das rechtliche Instrumentarium orientiert sich dabei an den Grundsätzen der Subsidiarität (§§ 10, 27 Abs. 1 SGB VIII; Kurzfassung: Hilfe nur zur Eigenverantwortung) und der Verhältnismäßigkeit (vgl. § 1666a BGB; Kurzfassung: Eingriffe sind ihrer Intensität nach so gering wie möglich, so weitreichend wie nötig zu gestalten), wobei beides durch ein Gebot der Kooperation der Eltern mit dem Jugendamt (§ 8a Abs. 1, 3 SGB VIII) verknüpft wird.
Damit ist klar, dass das Jugendamt einen Auftrag wahrnimmt, der nicht als bloße Wohltat bezeichnet werden kann, sondern eine elementare Sicherung des bürgerlichen Gemeinwesens darstellt, die dieses zwingend braucht. Denn offenbar ist es einem kapitalistischen Gemeinwesen mit Sachnotwendigkeit so fremd, mit Kindern ihren Bedürfnissen entsprechend umzugehen, dass es des Verfassungsauftrags des staatlichen Wächteramtes (Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG), der Institutionen der Jugendämter und Familiengerichte, der freien Wohlfahrtspflege sowie der Profession der sozialen Arbeit bedarf, um zumindest die elementaren Voraussetzungen für ein Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen sicherzustellen.
Dementsprechend ist dieses Normprogramm auch rechtlich verbürgt: Behörden und Gerichte müssen diese Programm einhalten; es werden fachliche Standards
erwartet, die zu berücksichtigen sind und durch Aufsichtsbehörden überwacht werden; es werden Rechtsansprüche gewährt, die keinen Finanzierungsvorbehalt kennen; all dies unterliegt der grundsätzlich vollen Kontrolle durch die Gerichte.
II. Konflikte mit der Sparpolitik
Dies hindert freilich die Politik nicht daran, permanent die Frage aufzuwerfen, ob das nicht auch billiger zu haben ist, denn, man erinnere sich: Sozialausgaben haben sich politisch daran zu bewähren, dass sie – letztlich – einen Beitrag zu Wirtschaftswachstum und Allgemeinwohl leisten. Und wenn man die Frage so aufwirft, wird man natürlich auch in der Jugendhilfe fündig. Und zwar in mehrerlei Hinsicht.
1. Personalkosten
Der Politik sind die Personalkosten zu hoch. Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen mussten in den letzten Jahren u.a. durch den im Jahr 2005 vereinbarten TVöD erhebliche Reallohnsenkungen und eine Intensivierung der Arbeit durch eine Ausdünnung des Personals und gleichzeitig steigende Bedarfe hinnehmen.
Öffentliche und freie Träger haben mittlerweile große Probleme, ihre Stellen zu besetzen, nicht zuletzt deshalb, weil die Arbeit härter geworden ist und die Einkommen kaum noch auskömmlich sind.
Neben einer Verschlechterung der Lebenssituation der Fachkräfte bleibt dies natürlich auch nicht folgenlos für die Qualität der zu leistenden Arbeit: in den ASDs kommt es immer wieder zu Überlastanzeigen
; die Fachkräfte müssen zu viele Fälle bearbeiten, um sich ihrem Klientel noch mit der gebotenen Aufmerksamkeit zu widmen. In allen Fällen, in denen Kinder wegen Misshandlung und Vernachlässigung zu Tode gekommen sind, konnte man in der Zeitung nachlesen, dass dieser Umstand: die notorische Überlastung der Fachkräfte zumindest als Mitursache diskutiert wurde.
2. Leistungsrecht
Der Politik erscheinen die Leistungen zu Gunsten der Bürgerinnen und Bürger zu teuer. Bei
Ermessensleistungen ist eine Einschränkung der Leistungen wegen fehlender Haushaltsmittel relativ leicht zu haben: hier ist anerkannt, dass fiskalische Überlegungen begrenzt in die Gewährung von Sozialleistungen einfließen dürfen, nämlich dann, wenn dies dem Zweck der Ermächtigungsgrundlage nicht zuwiderläuft, § 39 Abs. 1 SGB I. Eine gleichmäßige Verteilung knapper Mittel kann also eine Versagung einer Leistung rechtfertigen.
Wegen dieses Umstands werden Ermessensleistungen auch häufig als „freiwillige Leistungen“ bezeichnet, was die Sache nicht ganz trifft (es geht um „
pflichtgemäßes Ermessen“), aber jedenfalls die restriktive Perspektive der Leistungsträger veranschaulicht.
Bei
Rechtsanspruchsleistungen wird es schwieriger, aber ergiebiger, weil diese Leistungen kostenmäßig deutlich umfangreicher sind. Schwieriger wird das Sparen hier, weil Gesetz und Verfassung vorsehen, dass Rechtsansprüche unabhängig von zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln zu befriedigen sind, sie gelten im Unterschied zu den „freiwilligen Leistungen“ als „Pflichtleistungen“. Der Geltungsanspruch des Rechts und die vom Gesetzgeber einstmals für unverzichtbar gehaltene jeweilige Aufgabe erfordern die Emanzipierung der Normaussage von den zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln. Hier muss die Verwaltung kreativ werden – und sie wird kreativ. In die Prüfung von Voraussetzungen und Rechtsfolgen von Rechtsansprüchen wie der Hilfe zur Erziehung, der Eingliederungshilfe und der Volljährigenhilfe, aber auch des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz werden
Finanzierungsvorbehalte hineingelesen, die mit verwaltungsrechtlicher Dogmatik kaum in Einklang zu bringen sind. Unter dem
Stichwort „Ambulantisierung“ werden etwa die einzelnen Hilfen der §§ 27 ff. SGB VIII in eine Art Stufenverhältnis gebracht, als
gälte ein
Grundsatz „ambulant vor stationär“; Rechtsansprüche werden in Ermessensleistungen uminterpretiert und damit für tendenziell verzichtbar erklärt; die Leistungsschwelle des „erzieherischen Bedarfs“ des § 27 SGB VIII wird rechtsfehlerhaft mit der Eingriffsschwelle der Kindeswohlgefährdung des § 1666 identifiziert
; Niedrigschwelligkeit und Sozialraumorientierung – womöglich noch mit der Budgetierung von Rechtsansprüchen – werden als sozialpädagogische Vehikel identifiziert, mit denen man zu günstigeren Hilfen und damit zu einer Entlastung der öffentlichen Haushalte umsteuern kann. All dies stellt eine Verwaltungspraxis dar, die dem geltenden Grundsatz
der präventiven, effektiven und rechtzeitigen Leistungsgewährung (vgl. § 17 Abs. 1 SGB I) zuwider läuft.
Allgemein entfernt sich die Jugendhilfepraxis auch im
Verwaltungsverfahren davon, Leistungen bedarfsgerecht zur Verfügung zu stellen. Es wird auf die
Stellung von Anträgen gepocht, wo Klienten genau damit ersichtlich Schwierigkeiten haben,
Hilfeplanverfahren werden mit
Zugangshürden ausstaffiert,
Zuständigkeitskonflikte werden kleinlich und erbittert auf dem Rücken der Leistungsberechtigten ausgetragen.
All dies kann nicht verwundern, denn wo intern beständig darum gekämpft wird, Kosten einzusparen, muss sich dies als Widerspruch gegenüber einer bedarfsgerechten Leistungsgewährung geltend machen – schließlich schlägt sich nicht nur die rechtmäßige, sondern auch die rechtswidrige Verweigerung oder Verzögerung von Leistungen positiv im Haushalt der Leistungsträger nieder.
III. Die Justiz als Garant der Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft von Jugendhilfe und ASD
Wo die politische Führung des Gemeinwesens und die Landes- und Kommunalverwaltungen so zielsicher Sozialleistungen und darin auch die Leistungen der Jugendhilfe als negatives Gewicht in den öffentlichen Haushalten ausgemacht haben – sie tragen zum Wirtschaftswachstum nur sehr vermittelt bei, müssen sich stattdessen an lauter Zukunftsinvestitionen relativieren –, bleiben Konflikte mit den ebenfalls Notwendigkeit beanspruchenden sonstigen Staatszielen nicht aus. Bei dem hier beleuchteten Feld der Kinder u. Jugendhilfe geht es vor allem um den Schutz des Kindeswohls sowie die im Vorfeld gewährten und flankierenden Sozialleistungen. Diese Staatszwecke beanspruchen ebenfalls rechtliche, sogar verfassungsrechtliche Geltung (Art. 6 Abs. 2. S. 2, sowie Art. 20 Abs. 1 GG). Was sagen die Gerichte zu diesem Konflikt?
1. Personalkosten
Was die Konflikte zur personellen Ausstattung der Jugendämter und des ASD angeht, sind die heute gültigen schlechteren Arbeitsbedingungen zwar nach langem Streit, aber letztlich im Konsens mit den Arbeitnehmervertretungen zu Stande gekommen: Sie haben ja dem neuen TVöD 2005 zugestimmt. Auch im jüngsten Abschluss im April 2010 erfolgte keine Verbesserung, sondern eine Verschlechterung des Verhältnisses von Lohn und Leistung für die Arbeitnehmer – mit Zustimmung ihrer Vertretungen. Allerdings handelt es sich hier auch nicht um einen Fall für das Arbeits- oder das Beamtenrecht. Es handelt sich vielmehr um das Feld des Arbeitskampfes, der nur für Angestellte zulässig ist und mit Arbeitskampfmaßnahmen – Streik usw. – zu führen wäre.
Im Kampf der Beschäftigten für ein besseres Verhältnis von Lohn und Leistung erweist sich allerdings die abgeleitete Sphäre des öffentlichen Dienstes als Schwäche der Arbeitnehmerseite: Ein Streik führt im öffentlichen Sektor – anders als bei einem gewinnorientierten Unternehmen – nur sehr vermittelt zu einer ökonomischen Schädigung der Arbeitgeberseite, die ansonsten in einer Schmälerung des Gewinns besteht. Denn die Kommunen stellen Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen nicht zur Gewinnerzielung ein, sondern um Familien und ihre soziale Lage zu pflegen; ein nicht besetzter ASD schlägt sich nicht als Minus im öffentlichen Haushalt nieder. Etwas anderes ergäbe sich dann, wenn die Anspruchsberechtigten ihre Leistungen von Rechts wegen einfordern würden, was, wie man sogleich sehen wird, nur ausnahmsweise der Fall ist. So bleibt ein Arbeitskampf im sozialen Bereich lange eine öffentlich ausgetragene Werbeveranstaltung um den größeren Rückhalt bei der Bevölkerung als Versuch, Politik und Öffentlichkeit zu beeindrucken. Dies alles war im Kita-Streik der Erzieherinnen im Jahr 2009 zu beobachten.
Justiziabel könnte die Personalausstattung, -belastung und -entlohnung erst dann werden, wenn hierdurch
fachliche Standards gefährdet werden. Hier fällt der Blick zunächst auf das Fachkräftegebot des § 72 Abs. 1 SGB VIII, wobei die Kriterien für eine Eignung im Gesetz selbst nicht definiert sind. Zu den Fachkräften zählen beispielsweise Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, Erzieher, Psychologen, Diplompädagogen, Heilpädagogen, Sonderschulpädagogen, Psychologen, Jugendpsychiater und Psychotherapeuten.
Eine Anstellung von Personen beim ASD, die diesen Kriterien nicht entspricht, wäre danach rechtswidrig. Darum wird es aber gegenwärtig beim ASD nicht gehen; problematisch erscheint eher die chronische Überlastung und geringe Bezahlung der Fachkräfte. Hierzu sagt § 72 SGB VIII indes nichts, dieser Weg führt in die Irre.
Die schlechte personelle Ausstattung des ASD und chronische Überlastung bei geringer Bezahlung könnten jedoch dann justiziabel werden, wenn gerade diese Form schlechter Ausstattung und/oder schlechter Organisation zu Schäden bei Klienten, insbesondere den Kindern führt. Dann wäre an die Geltendmachung von zivilrechtlichen Schadensersatzansprüchen und Schmerzensgeld sowie die strafrechtliche Haftung des einzelnen Sozialarbeiters bzw. derjenigen Person zu denken, der die Organisationshoheit im ASD obliegt.
Für den Sozialarbeiter/die Sozialarbeiterin vor Ort bleibt daneben nur die Überlastanzeige, um den Arbeitgeber/den Dienstherrn daran zu erinnern, dass die geforderte Arbeitsbelastung zu weiteren Risiken führt und etwaige Haftungsfragen nicht, an ihm/an ihr „hängen bleiben“. Allerdings: Schadensersatz und Strafe sind auf die Wiederherstellung verletzten
Rechts gerichtet, beseitigen also nicht den Missstand, sondern setzen ihn voraus – weshalb etwas zynisch immer auf den „passenden Fall“ gewartet werden muss.
Eine andere Überlegung zur rechtlichen Sicherung einer angemessenen personellen Ausstattung gegenüber aktuellen Sparprogrammen führt über den Umweg des Leistungsrechts, das den Berechtigten einen Anspruch auf die geeignete und notwendige Hilfe insbesondere aus § 27 SGB VIII einräumt. Wenn etwa ein Betroffener aktuell keine Hilfe erhält, weil der ASD überlastet ist, die Befriedigung des Hilfebedarfs also in die Zukunft geschoben wird, dann kann der Berechtigte seine insoweit schlecht erfüllten Leistungsansprüche durch Widerspruch, Verpflichtungsklage und ggf. im Wege des Eilverfahrens geltend zu machen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die rechtliche Kontrolle zur Sicherstellung einer angemessenen Personalausstattung nur sehr begrenzt geeignet ist; eine gewisse Signalwirkung mag solchen Verfahren zukommen. Gerichtliche Verfahren werden jedoch eine politische Auseinandersetzung um das Thema kaum ersetzen können.
2. Leistungsrecht
Was jedoch die Leistungsseite anbelangt, ergibt sich ein anderes Bild. Für die Berechtigten stehen Sozialgerichte und – im Bereich der Jugendhilfe – die Verwaltungsgerichte bereit, um die Verwaltung an ihrer gesetzlichen Verpflichtungen zu erinnern. In der Tat zeigt sich, dass die Rechtsprechung in vielen Fällen zu einer Korrektur rechtswidriger Entscheidungen der Jugendämter geführt hat.
a) Kontrolle des Verwaltungshandelns durch die Verwaltungsgerichte
Als Beispiele dafür, dass die Verwaltungsgerichte ihren Kontrollauftrag sehr ernst nehmen, seien beispielhaft folgende Entscheidungen zu Grundfragen des Jugendhilferechts genannt:
– Zur Unzulässigkeit des „Hamburger Verfügungsstopps“;
– Zur Notwendigkeit echter Einzelfallentscheidung in der Jugendhilfe, die einer Verweigerung von Leistungen wegen nicht weiter begründeten „Lehrbuchmeinungen“ den Weg versperrt;
– Zur Rechtsanspruchsqualität der Hilfe für junge Volljährige;
– Zu vorläufigen Leistungen, die dem Streit der Leistungsträger über ihre Zuständigkeit den Weg verbauen;
– Zur vollen Überprüfbarkeit der Entscheidungen des Jugendamtes;
– Zur Unzulässigkeit der sozialraumorientierte Steuerung durch Budgets
und Unanwendbarkeit des Vergaberechts im Jugendhilferecht.
b) Legitimation des Verwaltungshandelns durch die Verwaltungsgerichte
Es gibt freilich auch Entscheidungen, in denen die Gerichte zu Lasten der klagenden Anspruchsberechtigten entschieden haben. Hier sahen die Gerichte ihre Aufgabe eher darin, die immer restriktivere Praxis der Jugendämter juristisch zu unterfüttern:
– Erfordernis einer Antragstellung im Jugendhilferecht auch ohne gesetzliche Grundlage;
– Zur Einschränkung des Wunsch- und Wahlrechts auf anerkannte Träger der freien Jugendhilfe;
– Zu besonderen Restriktionen bei der Großelternpflege;
– Zur Annahme eines Beurteilungsspielraums im Jugendhilferecht.
Insbesondere die Frage der Kontrolldichte jugendhilferechtlicher Entscheidungen zeigt sehr deutlich, dass die Verwaltungsgerichte ihre Aufgabe keineswegs nur darin sehen, den Leistungsberechtigten zur Realisierung ihrer Ansprüche im Wege eines Prozesses zu verhelfen, sondern dass sie davon ausgehen, dass die Jugendämter dies im Rahmen der ihnen zustehenden Verwaltungshoheit selbst erledigen. Ob dieses Vertrauen angesichts aktueller Sparzwänge in den Kommunen gerechtfertigt ist, erscheint dabei durchaus fraglich.
c) Ein erstes Fazit
Insgesamt überwiegen jedoch sicher die zusprechenden die versagenden Entscheidungen. Die insoweit vorgenommenen Korrekturen führen gleichwohl nicht dazu, dass die Kommunen nunmehr in der Masse der Fälle von ihrem Kurs abrücken würden. Sie reichen zumeist nur dazu, im jeweiligen Einzelfall etwas zu Gunsten der betroffenen Eltern bzw. ihren Kindern zurechtzurücken. Dies zeigt, dass mit einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung, die das Jugendamt zur Gewährung einer geeigneten und notwendigen Hilfe verpflichtet, die Rechnungsweise des Leistungsträgers weder grundsätzlich kritisiert, noch grundsätzlich außer Kraft gesetzt wird. Mit gerichtlichen Entscheidungen, in denen man unterliegt, ist rechtlich-kalkulierend umzugehen; ob daraus die Änderung einer Verwaltungspraxis folgt, ist eine durchaus offene Frage. Ihre Beantwortung hängt letztlich davon ab, welchen Weg die Verwaltung geht: entweder sie verfolgt Kosteneinsparungen mit damit zumeist einhergehender Rechtswidrigkeit des Verwaltungshandelns oder sie verfolgt die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns mit zumeist damit einhergehenden Kostensteigerungen.
Hinzu kommt, dass Leistungsberechtigte im Bereich der Jugendhilfe nur ausnahmsweise den Rechtsweg beschreiten, um ihre Ansprüche durchzusetzen. Angesichts der ambivalenten Verheißungen der Jugendhilfe – sozialpädagogische Hilfe dafür, trotz des kapitalistischen Alltags seine Kinder wieder besser zu erziehen – haben sie auch wenig Grund dazu. Sie erleben Jugendhilfeleistungen als Eingriff in ihre familiale Intimsphäre und werden – in der sozialarbeiterischen Realität – durch die Fachkräfte des ASD auch nicht als Leistungsberechtigte angesprochen, sondern eher als potentielle Gefährdungen für ihre Kinder. Eltern, die sich an dieser Stelle auf den Rechtsstandpunkt stellen, stehen im Übrigen eher im Verdacht sich „bloß entlasten“ zu wollen, statt ihr natürliches Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) wahrzunehmen.
Insofern verwundert es nicht, dass die Betroffenen wenig Elan bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche zeigen.
Daher sind es bis jetzt vor allem die freien Träger, die die Berechtigten in der Durchsetzung ihrer Rechte unterstützen. Hier paart sich auf der einen Seite das sozialanwaltschaftliche Engagement dieser gemeinnützigen Institutionen mit dem ihnen zugebilligten wirtschaftlichen Eigeninteresse.
Denn die freie Wohlfahrtpflege „profitiert“
natürlich von jeder Leistung, die durch ein Jugendamt bewilligt wurde.
Wie sehr die Realität des Leistungsrechts inzwischen durch das Leistungserbringungsrecht geprägt wird, zeigt ein Exkurs zu zwei aktuellen Entscheidungen, in denen das Bundessozialgericht im verwandten Bereich der Sozialhilfe sowie der sozialen Pflegeversicherung an ganz unscheinbaren Stellen den Sparbedürfnissen der Kostenträger Einhalt geboten hat.
d) Exkurs: Einflüsse des Leistungserbringungsrechts auf das Jugendhilferechtsverhältnis
aa) Das BSG zum Dreiecksverhältnis im Sozialhilferecht: notwendige Beiladung des Leistungserbringers
In einer aktuellen Entscheidung
zur Übernahme von
Heimpflegekosten durch den Sozialhilfeträger vertritt das BSG die Auffassung, dass der Heimträger gem. § 75 Abs. 1 SGG (§ 65 Abs. 1 VwGO)
notwendig beizuladen sei. Bislang war die Rechtsprechung hier davon ausgegangen, dass im Rahmen des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis alle Leistungsbeziehungen nur „überʼs Dreieck“, d.h. zwischen Leistungsträger und Leistungsempfänger bzw. zwischen Leistungsempfänger und Leistungserbringer abzuwickeln seien; nun meint das Gericht, dass der Leistungsträger im Rahmen eines „Sachleistungsverschaffungsanspruches“ mit Gewährung der Leistung an den Leistungsempfänger unmittelbar ein Rechtsverhältnis zum Leistungserbringer entsteht.
Wichtig für unseren Zusammenhang ist dies: Durch diese Rechtsprechung wird der Leistungserbringer, in der Regel eine Institution der freien Wohlfahrtspflege, in der Jugendhilfe ein freier Träger, Prozessbeteiligter im Sozial-/Verwaltungsrechtsstreit. Er hat damit die Möglichkeit, diesen Prozess in seinem Sinne durch Prozess- oder Beweisanträge zu begleiten und zu unterstützen; ferner wirkt die Rechtskraft des Urteils dann auch für und gegen den Leistungserbringer.
Hierdurch wird die Rolle der Betroffenen im Prozess gestärkt, da die Betroffenen bislang in ihrem Prozessrechtsverhältnis kein starkes, rechtlich anerkanntes und gewünschtes Interesse auf ihrer Seite haben, sondern ihre Bedürftigkeit, die ihrer Substanz nach im öffentlichen Interesse nach Kompensation erzieherischer Mangellagen besteht. Nun wird womöglich das wirtschaftliche Interesse der freien Träger zum Hebel für einen besseren Schutz der Betroffenen vor rechtswidrigen Entscheidungen der Verwaltung.
bb) Das BSG zum leistungsgerechten Entgelt
In einer aktuellen Entscheidung
im Bereich der Finanzierung von Pflegeeinrichtungen hat das BSG seine alte Rechtsprechung
, dass
allein der Markt sozialer Dienstleistungen über die Höhe des Leistungsentgelts entscheiden solle,
aufgegeben. Vielmehr solle dann, wenn ein Leistungsentgelt im Vergleich mit anderen gleichgearteten Einrichtungen oberhalb des unteren Preisdrittels liege, die Möglichkeit bestehen, diesen Mehrpreis plausibel zu begründen.
Wichtig für unseren Zusammenhang ist dies: Hierdurch wird aller Voraussicht nach die Abwärtsspirale der Preise im Pflegebereich zumindest gebremst werden, weil nun die Einrichtungen wieder mit ihren Selbstkosten, wenn auch nur subsidiär, argumentieren dürfen. Dieser „interne Vergleich“ war ihnen durch die alte BSG-Rechtsprechung zum ausschließlich maßgeblichen „externen Vergleich“ verwehrt. Insbesondere ist es ihnen nun möglich, etwaige Tarifbindungen der Träger besser zu berücksichtigen.
Damit wird mittelbar die Versorgungssituation der Betroffenen gestärkt, da nun die Entgeltverhandlungen der freien Träger die fachlichen Notwendigkeiten der Betreuung wieder Eingang in die Bestimmung des leistungsgerechten Entgelts finden können und nicht durch einen für die Träger ruinösen Preisbildungsmechanismus immer weiter nach unten rutschen.
cc) Ein zweites Fazit
In beiden angesprochenen Entscheidungen des BSG wird also das Bemühen der öffentlichen Kostenträger, die Kosten für personenbezogene soziale Dienstleistungen abzusenken – dort waren es Sozialhilfeträger und die Träger der sozialen Pflegeversicherung –, vorsichtig
gebremst. Dabei wird umgekehrt die sozialanwaltschaftliche Rolle der freien Träger vorsichtig
gestärkt. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass auch die Kürzungsprogramme, die im Rahmen von
Sozialraumbudgets in der Jugendhilfe – und seien diese bloß „virtueller“ Art – auch über den Hebel der Berufsfreiheit der Leistungserbringer aus Art. 12 GG gestoppt werden konnten, obwohl bei diesen Verfahren die sozialpolitische Sorge um die Kürzung von Sozialleistungen gegenüber den Betroffenen ebenso angegriffen wurden.
Ob freilich die Rechtsprechung des BSG von den für die Jugendhilfe zuständigen Verwaltungsgerichten übernommen wird, bleibt abzuwarten.
D. Schlussfolgerungen: zur Rechtsbindung im Jugendhilferecht
Warum also ringt die Jugendhilfe mit der Rechtsbindung, warum sind so viele Entscheidungen der Jugendämter rechtswidrig
? Der wesentliche Grund dürfte darin liegen, dass die Jugendhilfe chronisch und systematisch zu geringe Mittel erhält, um ihre Aufgaben nach Geist und Buchstaben des SGB VIII zu erfüllen. Diese
Knappheit der Mittel ist der Ausgangspunkt jeglicher Sozial- und Familienpolitik, weil es in einer marktwirtschaftlichen Ordnung um etwas anderes geht, als um ein – unter anderem – bedürfnisgerechtes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen; auch der Jugendhilfe geht es nicht darum. Um die Befriedigung der Bedürfnisse, die die Menschen haben, geht es in der Marktwirtschaft eben nie so ohne weiteres, sondern nur über den „Umweg“ einer geschäftlichen Ausnutzung dieser Bedürfnisse. Und dieser Umweg namens Wirtschaftswachstum, ist durch den politischen Hüter dieses Gemeinwesens so fest gefügt und unausweichlich gemacht, dass man schon sagen darf: dies, das
Wirtschaftswachstum, ist der
wirkliche Zweck des Gemeinwesens – wie sich nicht zuletzt jetzt in der Krise zeigt, wo Banken wegen ihrer „systemischen Bedeutung“ gerettet werden und eben nicht eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung zur Bekämpfung der miserablen Lebensbedingungen armer Familien unternommen wird
.
Staatlich organisierte Jugendhilfeleistungen mitsamt den damit verbundenen Kosten verdanken sich also auch nicht dem schlichten Zweck, ein besseres Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen zu organisieren, sondern sie verdanken sich der Sorge darum, dass die marktwirtschaftliche Ordnung so viel dysfunktionale Armut, Verwahrlosung und Gewalt hervorbringt, dass die marktwirtschaftlichen Werte der
Eigenverantwortlichkeit und Gemeinschaftsfähigkeit werdender
Persönlichkeiten (§ 1 Abs. 1 SGB VIII) in Gefahr geraten. Der Staat muss als „sozialer Interventionsstaat“
eingreifen, um seine gesellschaftlichen Ressourcen zu schützen, zu pflegen und zu entwickeln, dies sieht bereits die Verfassung mit dem staatlichen Wächteramt (Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG) vor. Jugendhilfe ist daher – dafür –
absolut notwendig; aber dies stempelt sie zugleich mit dem Verdacht,
bloß entlastend zu wirken, bloß Bedürfnisse der Betroffenen zu befriedigen, also
bloße Wohltat zu sein, statt dem wirklichen Zweck des Gemeinwesens, dem Wirtschaftswachstum, zu dienen, von dem in dieser Gesellschaft alles abhängt.
Insofern kann man durchaus von einem Zielkonflikt sprechen: einerseits gilt es, die Kosten in der Jugendhilfe knapp zu halten, andererseits bestehen gerade diese Kosten nicht in bloßen Wohltaten, sondern sind notwendig zum Schutz und zur Pflege und Entwicklung der sozialen Ressourcen.
Die Leistung der Rechtsprechung besteht nun darin, die Verwaltung gegen ihre eigene Haushaltslogik an den – in Rechtsvorschriften gegossenen – sozialpolitischen Willen des Gesetzgebers zu binden – einerseits. Andererseits verdanken sich die Kriterien, nach denen die Rechtsprechung diese Rechtsbindung erzwingt, selber der sozialpolitischen Zwecksetzung, Kinder und Jugendliche als soziale Ressource für das Gemeinwohl zu betrachten, denn Inhalt des Jugendhilferechtes sind, normativ gesprochen: die Herstellung von Eigenverantwortlichkeit und Gemeinschaftsfähigkeit werdender Persönlichkeiten, pragmatisch gesprochen die individuelle Fähigkeit, den kapitalistischen Alltag auszuhalten und dabei sozialverträglich zu bleiben. Jedenfalls besteht die Leistung der Rechtsprechung nicht darin, Kindern und Jugendlichen ein besseres Leben zu verfügen; die entsprechenden Restriktionen: Nachrangigkeit, Selbsthilfegrundsatz und nur ausnahmsweise materielle Entlastung sind unschwer dem Gesetz zu entnehmen.
Unterm Strich entscheiden die Gerichte also über den aktuellen Stand des Zielkonfliktes zwischen sparsamer Haushaltsführung und sozialpolitischer Zwecksetzung. Und dass die Fachkräfte der Jugendämter diese Kontrolle ihrer Tätigkeit als Beschränkung empfinden, Rechtsbindung als Hindernis ihres sozialpädagogischen Wirkens, und Beurteilungsspielräume als Befreiung von aufwendiger und lästiger Rechenschaftslegung wahrnehmen, verwundert nicht – auch wenn sowohl zusprechende wie versagende gerichtliche Entscheidungen am Ende nur eine Bestätigung der gesetzlichen Aufgaben des Jugendamtes darstellen.
Nüchtern betrachtet, kürzt sich hierauf auch die Verheißung sozialer Gerechtigkeit zusammen. Neben der ausgleichenden Gerechtigkeit, die dem einzelnen durch die Gerichte zu Teil wird, kann und will sich der moderne Staat nicht vom Inhalt seines Herrschaftsverhältnisses lösen und zu einer Instanz der austeilenden Gerechtigkeit über das Maß des für ihn Nützlichen hinaus machen; womöglich also den vorhandenen Reichtum einfach verteilen, auf dessen Funktionalität es ihm für sein Wirtschaftswachstum über alle Maßen ankommt. Denn dies hieße, die Ausschließlichkeit des grundrechtlich garantierten Eigentums zu beseitigen. Und dies dürfte kaum auf der politischen Agenda stehen.