Wirkungsvolle Jugendhilfe Hamburg

Donnerstag, 1. Dezember 2011

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Ein Kommentar,                                                        28.11.2011 Von: Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt

Unter dem Stichwort „Sozialraumorientierung“ findet nun schon seit geraumer Zeit eine Auseinandersetzung über die zukünftige Gestaltung kommunaler Sozial- und Jugendhilfeleistungen statt. Dabei wird von den Einen der emanzipatorische Charakter dieses Konzept gerühmt, dass endlich dem Gerangel um Fachleistungsstunden zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern ein Ende bereitet, während andere darauf hinweisen, dass sich die Entdeckung des Sozialraums schlichtweg den kommunalen Haushalten und ihren Sparzwängen verdankt. Sozialraumorientierung wird dabei zu so etwas wie einer Allzweckwaffe der in Finanznöten befindlichen Sozialdezernenten, weil mit dem Aktivieren der sog. Regeleinrichtungen (zumeist wird dabei an Schulen und Kindertagesstätten gedacht) die Hoffnung auf die Eingrenzung der kostentreibenden Entwicklung bei Einzelfallhilfen verbunden wird.
1.
Die kommunalen Aufgaben im Sozial- und Jugendbereich lassen sich in freiwillige und pflichtige Aufgaben unterscheiden. Erstere beziehen sich dabei i.d.R. auf infrastrukturelle Leistungen im Rahmen der kommunalen Daseinsvorsorge, letztere auf Einzelfallhilfen im Rahmen gesetzlicher Verpflichtungen. Die „Freiwilligkeit“ der infrastrukturellen Leistungen ist keine Befreiung von entsprechenden Aufgaben, sondern verdankt sich schlicht der Überlegung, dass die örtliche Infrastruktur den jeweiligen Gegebenheiten gemäß entwickelt und ausgestaltet werden soll. Die in der Praxis beobachtbare Entgegensetzung von freiwilligen (können gestrichen werden) und pflichtigen (müssen leider vorgehalten werden) Leistungen ist Folge einer kommunalen Sparpraxis, die den Anspruch auf Ausgestaltung der kommunalen Daseinsvorsorge aufgegeben hat, weil die Haushalte nichts mehr hergeben.
2.
Dieser Tatbestand wird nun in einer Initiative der SPD-regierten A-Länder insofern auf den Kopf gestellt, weil der Rechtsanspruch auf Hilfen zur Erziehung vorrangig durch eine „Gewährleistungsverpflichtung des öffentlichen Jugendhilfeträgers“ ersetzt werden soll, wobei in Zukunft der Rechtsanspruch durch „ein verpflichtendes infrastrukturelles Angebot“ erfüllt werden soll. Hintergrund dieser Initiative ist die ungebremst ansteigende Fallzahlentwicklung bei den Hilfen zur Erziehung und die Unzufriedenheit der Kostenträger mit der Stellung freier Träger bei der Ausgestaltung des Hilfeangebots. Durch die vermehrte Nutzung sog. „sozialräumlicher Versorgungsverträge“ erhofft man sich zukünftig Spareffekte bei der Leistungserbringung, die dadurch verstärkt werden sollen, dass die „Regelinstitutionen“ Schule und Kindertagesstätten verstärkte jugendhilfespezifische Aufgaben übernehmen sollen.
3.
Die Ersetzung von individuellen Rechtsansprüchen durch infrastrukturelle Angebote im Sozialraum würde nicht nur für die betroffenen Kinder und Jugendlichen fundamentale Einschnitte bei notwendigen Hilfeleistungen mit sich bringen und die Gestalt der Jugendhilfe in Deutschland nachhaltig verändern, sie zeigt auch, warum das Konzept der Sozialraumorientierung auf kommunaler Ebene so begierig aufgegriffen wird: es ist jenseits seiner gemeinwesen- und bürgerschaftsorientierten Rhetorik ein wohlfeiles Steuerungsinstrument der Umgestaltung kommunaler Sozialpolitik unter Sparzwängen. Und als solches wird es eingesetzt, um die im Sozialraum vorfindlichen Institutionen zu Ausputzern nicht mehr zu finanzierender Aufgaben umzuwandeln, wohl wissend, dass diese dazu weder die Ressourcen, geschweige denn die fachlichen Kompetenzen haben.
4.
Es wird interessant sein zu verfolgen, wie die Leistungserbringer und ihre Verbände, die ja durch die Initiative der A-Länder direkt attackiert werden, auf diesen Vorgang reagieren. Die brutale Offenheit, mit der dasSozialraumkonzept zur Aushebelung individueller Rechtsansprüche herangezogen wird, könnte die Augen über dessen eigentliche Programmatik öffnen und die Debatte über die Jugendhilfe und ihre zukünftige Gestaltung neu eröffnen. Gespannt wird auch abzuwarten sein, wie sich diejenigen Vertreter der sozialen Arbeit äußern, die immer betonen, dass mit der Sozialraumorientierung nur eine Wiederbelebung verschütterter Ressourcen und Methodender sozialen Arbeit gemeint sei, aber keineswegs ein Plädoyer für kommunale Sparprogramme. Spätestens jetzt muss man davon ausgehen, dass jedem in Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit Tätigen klar sein muss, welchem Kontext und welcher Logik sich die gegenwärtige Konjunktur der Sozialraumorientierung verdankt.


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Autor
Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt
Professor für Sozialmanagement, Verwaltung und Organisation an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-
Westfalen-Lippe
Rubrik: Allgemeine Nachricht, Kinder- und Jugendhilfe

Dienstag, 29. November 2011

LIGA
DER SPITZENVERBÄNDE DER FREIEN WOHLFAHRTSPFLEGE IN BERLIN
Arbeiterwohlfahrt Landesverband Berlin e.V., Caritasverband für das Erzbistum Berlin e. V.,. Diakonisches Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz
e.V., PARITÄTISCHER Landesverband Berlin e.V., DRK Landesverband Berliner Rotes Kreuz e.V., Jüdische Gemeinde zu Berlin KdöR


„Für einen seriösen Umgang mit den Hilfen zur Erziehung (HzE)“

Soziale Situation von Familien in Berlin

1. Die Bekämpfung der Erziehungsarmut ist ein Schlüssel zur Verhinderung von gescheiterten
Bildungsverläufen und dauerhaften Hartz-IV-Karrieren.

2. Die Hilfen zur Erziehung sind die öffentlichen Sozialleistungen, die auf die Bearbeitung
von familiären Erziehungsdefiziten ausgerichtet sind. Sie sind deshalb mit all ihren Formen
eine sinnvolle Zukunftsinvestition im Gefüge gleichfalls notwendiger Maßnahmen zur schulischen
und beruflichen Förderungen von benachteiligten Kindern und Jugendlichen. Erfolge der Hilfen zur Erziehung erhöhen die Wirksamkeit in unseren Bildungssystemen.

3. Zu den zentralen Ursachen, die zum Einsatz einer Hilfe zur Erziehung führen, gehören
(drohende) Kinderschutzlagen und ein hoher Anteil konfliktträchtiger und unvollständiger
Familienkonstellationen. Nach jüngsten Studien1 ist die Wahrscheinlichkeit für eine Heim- unterbringung für Kinder und Jugendliche

- aus Stieffamilien 50 mal so hoch wie aus Familien mit beiden leiblichen Elternteilen
- von Alleinerziehenden 16 mal so hoch
- aus „Hartz-IV-Familien“ 12 mal so hoch

wie das entsprechende Risiko von Minderjährigen aus erwerbstätigen, vollständigen Familien.

Je höher die Zahl solcher Familienkonstellationen und Lebenslagen in einer Region ist, umso größer ist der erwartbare Bedarf an öffentlichen Erziehungshilfen. Diese hilfeauslösenden Familien-konstellationen und prekären Lebenslagen sind in Berlin überrepräsentiert.
Der Bildungsbericht Berlin-Brandenburg 2010 weist hierzu u.a. für Berlin aus, dass,

- ein Fünftel der mit Kindern in einem Haushalt lebenden Bezugspersonen nicht erwerbstätig ist (bundesweit trifft das auf ein Zehntel der Familien zu).
- verglichen mit Deutschland insgesamt, dreimal so häufig beide Ehepartner kein eigenes
Erwerbseinkommen haben (14%).
- ca. 21% der Kinder von der Risikolage „Bildungsarmut der Eltern“ betroffen sind.
- ein nicht unerheblicher Teil der Berliner Familien an oder unterhalb der Armutsgrenze
lebt (insbesondere sind Kinder unter 18 Jahren von Alleinerziehenden betroffen).
- 36% aller Kinder in Berlin von Armut betroffen sind und dabei das Armutsrisiko seit
2007 in Berlin um 6% zugenommen hat.

Diese Problemlagen denkt sich die sog. Hilfeindustrie nicht selbst aus. Sie reagiert konstruktiv
auf schwierige Lebenskonstellationen und die Hilfen zur Erziehung leisten einen wichtigen
Beitrag zum Miteinander in dieser Stadt und bieten Perspektiven für Kinder, Jugendliche,
junge Volljährige und Familien.
Die Fakten anerkennend muss es darum gehen, für eine auskömmliche Finanzierung der
Hilfen zur Erziehung zu sorgen. Das Procedere in den vergangenen Jahren hat immer wieder
schon weit vor dem Jahresende für problematische Diskussionen und hektische Reaktionen
in den Bezirken und auf Landesebene geführt.
 
Kostenentwicklung

1. Die Kosten für öffentliche Erziehungshilfen sind dabei nicht aus dem Ruder gelaufen. In
2010 lagen die Ausgaben mit 408 Millionen EUR um 42 Millionen EUR unter dem Niveau
von 2002. Wenn überhaupt, gibt es nur wenige Bereiche im Landeshaushalt, deren heutiges
Volumen unter dem Niveau von vor 10 Jahren liegt. Mit Ausnahme der Krisenunterbringungen
(+44%) sind die Ausgaben für stationäre Hilfen gegenüber 2009 um moderate 2 % gestiegen,
die für ambulante Hilfen sind konstant. Von einem, in die politische Diskussion immer
wieder eingebrachten ungesteuerten Anstieg der Kosten, kann keine Rede sein.
2. Die Erziehungshilfen in Berlin sind wesentlich billiger als in fast allen anderen deutschen
Großstädten. Dies belegen zwei Städtevergleiche aus den vergangenen Jahren. Während in
Berlin eine Hilfe zur Erziehung pro Fall 12.576 EUR kostet, zahlen die am Kennzahlenvergleich
der Universität Koblenz3 teilnehmenden Großstädte im Schnitt 15.150 EUR pro Fall –
rund 2600 EUR mehr. Ein Stadtstaatenvergleich vor fünf Jahren hatte schon für Berlin geringere
Fallkosten gegenüber Hamburg und Bremen belegt. Der Schlussbericht des Senats benannte
dazu u.a. als Ursachen den hohen Anteil ambulanter Hilfen und die Personal- und
Tarifstruktur, die unter den Niveaus von Hamburg und Bremen liegt.
3. Seit 2005 steigen die Fallzahlen wieder an und haben aktuell den Level von 2002 überschritten.
Dies, verbunden mit der o.g. Kostenentwicklung, macht deutlich, in welchem
Spannungsverhältnis heute in Berlin im Bereich der Hilfen zur Erziehung gearbeitet wird.
Nimmt man dann noch die soziale Situation Berlins hinzu (s.o.) verbietet sich u.E. die fachliche
und politische Behandlung der Hilfen zur Erziehung als Schmuddelkind.
 
Steuerung der HzE

1. Die sozialpädagogischen ambulanten, teilstationären und stationären Hilfen versuchen
seit Jahren durch die Weiterentwicklung ihrer Angebote und Leistungen Antworten auf den
oben beschriebenen Befund zu geben. Dabei besteht in der Unterschiedlichkeit der Landschaft
der Leistungsanbieter, die durch einen Kernbestand von ca. 250 Trägern aus dem Liga-
Bereich geprägt wird, eine große Ressource, deren Zahl seit Jahren weitgehend konstant
ist. Traditionsreiche Einrichtungen prägen die öffentliche Erziehung in Berlin seit fast 200
Jahren.
2. Es sollte gemeinsam nach Lösungen gesucht werden, die präventive Angebote und Unterstützungsmaßnahmen im Sozialraum ebenso im Blick hat, wie die auf den Einzelfall zugeschnittenen Hilfen zur Erziehung. HzE und Sozialraumorientierung dürfen nicht in ein Rangverhältnis gesetzt oder gegeneinander ausgespielt werden.4
Dort wo sinnvoll können auch Kooperationen zwischen professionellem Arbeiten und ehrenamtlichem Engagement insbesondere zur Stärkung regionaler Bezüge in den Blick genommen
werden.
3. Seit 2009 gibt es ein Fach- und Finanzcontrolling HzE mit Wirksamkeitserhebungen. Anstatt
kurzatmig immer wieder neue Steuerungslogiken zu erfinden, sollten die neu eingeführten
Instrumente ihren Nutzen erst einmal entfaltet können. Das eingerichtete Fach- und Finanz-controlling HzE hat sich aus unserer Sicht bewährt und sollte unbedingt fortgesetzt und
ausgeweitet werden. Wir sind der festen Überzeugung, dass man mit einer intensiveren zumindest
in verschiedenen Arbeitspaketen zeitweisen Beteiligung der freien Wohlfahrtspflege
konstruktiv gemeinsam zukünftige Angebote und Programme gestalten und über die Wirksamkeit
der Hilfen zur Erziehung diskutieren kann.

Wirkungsgrenzen der Hilfen zur Erziehung


1. Bei Ausschöpfung aller Verbesserungsmöglichkeiten der gegenwärtigen Steuerung verbleiben
auch für Hilfen zur Erziehung Wirkungsgrenzen. So gehört es zum gesicherten Forschungsstand5,
dass sich familiäre Bedingungen für (schulische) Bildungserfolge als zweimal
so groß erwiesen haben wie die Wirkungspotenziale qualitativ günstiger Leistungen von Kita
und Grundschule. Das bedeutet, die Fähigkeit von jungen Menschen, auf den eigenen Füßen zu stehen, wird in erster Linie durch die Erziehungsleistung der Eltern bestimmt. Dies gilt für die fördernde Kraft einer guten Kindheit wie die beeinträchtigende Wirkung elterlicher Passivität.
2. Die Wirksamkeit öffentlicher Bildungs- und Erziehungsanstrengungen wird durch die elterliche
Mitwirkung beeinflusst, selbst dann noch, wenn die Kinder in Heimen leben.
3. Wir halten trotzdem fest, dass die Anbieter der Hilfen zur Erziehung ihren Erziehungs- und
Bildungsauftrag an- und ernst nehmen. Dies gilt sowohl für die Führungs- als auch für die
Fachebene. Unser Interesse an einer seriösen Behandlung des Themas ist groß. Wir laden
zu konstruktiven und in die Zukunft gerichteten Diskussionen ein.

Berlin, im November 2011

Ansprechpartner
Arbeiterwohlfahrt LV Berlin e.V., Caritasverband für das Erzbistum Berlin e.V., Der PARITÄTISCHE Berlin, Diakonisches Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz e.V.:
Deutsches Rotes Kreuz LV Berlin e.V., Jüdische Gemeinde zu Berlin


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1 Dr. Ulrich Bürger, KVJS Baden-Württemberg, in Forum Erziehungshilfe, Heft 5, 2010
2 Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2010
3 Kennzahlenvergleich 2009 Erzieherische Hilfen im IKO-Netz Vergleichsring
4 Siehe: Stellungnahme des SOS-Kinderdorf e.V. Deutschland vom 28.10.2011 zur Initiative „Wiedergewinnung
kommunalpolitischer Handlungsfähigkeit zur Ausgestaltung von Jugendhilfeleistungen“
5 u.a. Tietze zur Ausgleichbarkeit von familienbedingten Bildungsunterschieden











Freitag, 25. November 2011

Kein Geld! Kein Schutz! Keine HILFE!

Kinderrechte

Bundesrat stimmt Bundeskinderschutzgesetz nicht zu

Kristina Schröder: "Blockadehaltung der Länder beim Bundeskinderschutzgesetz ist verantwortungslos"

Mehr zu: Föderalismus, Jugendschutz, Kinderrechte, Sonderthemen
Berlin, 25.11.2011 - Das von der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Kristina Schröder, vorgelegte neue Bundeskinderschutzgesetz hat heute (Freitag) im Bundesrat keine Mehrheit der Stimmen bekommen. Zudem konnten sich die Länder nicht auf die Anrufung des Vermittlungsausschusses verständigen, so dass das Gesetz blockiert ist. Der Deutsche Bundestag hingegen hatte das Gesetz Ende Oktober ohne Gegenstimme beschlossen und auch in der Fachwelt war das Gesetz einhellig begrüßt worden.
"Es macht mich traurig, dass sich einige Länder aus parteipolitischem Kalkül dringend notwendigen Verbesserungen im Kinderschutz verweigern. Aber ich bleibe entschlossen, das Kinderschutzgesetz so schnell wie möglich in Kraft zu setzen. Deshalb werde ich noch heute die Anrufung des Vermittlungsausschusses durch die Bundesregierung angehen", sagte Bundesfamilienministerin Kristina Schröder heute in Berlin. "Fachlich sind sich alle einig, dass wir mit dem Bundeskinderschutzgesetz eine neue Qualität im Kinderschutz erreichen können. Die Länder tragen nun die Verantwortung, dass das Bundeskinderschutzgesetz nicht zum 1. Januar 2012 in Kraft treten kann."
In den letzten Wochen war die Bundesregierung den Ländern weit entgegen gekommen und hatte in einer Protokollerklärung die dauerhafte Finanzierung der Familienhebammen sowie finanzielle Entlastungen für die Kommunen angeboten. Letztlich hat die Blockadehaltung der SPD-geführten Länder das zügige in Kraft treten des Gesetzes verhindert.
"Die Länder müssen sich jetzt fragen lassen, wie der Kinderschutz in Deutschland ohne dieses Gesetz weiter voran gebracht werden soll", sagte Bundesfamilienministerin Schröder. "Ein gemeinsames Konzept der Länder zum Kinderschutz ist nicht erkennbar. Das wird die weiteren Gespräche sehr belasten."
Das vom Bundestag beschlossene Bundeskinderschutzgesetz hätte Prävention und Intervention gleichermaßen vorangebracht. Es steht für bessere Unterstützungsangebote für Familien, Eltern und Kinder, mehr Zusammenarbeit der relevanten Akteure und starke Netzwerke. Von den Kinderärzten, Familienhebammen, Jugendämtern bis hin zu den Familiengerichten - alle sollten einbezogen werden, um Risiken und Gefahren für Kinder und Jugendliche aktiv vorzubeugen oder diese wirksam abzuwenden. Durch die Blockadehaltung einiger Länder können diese Regelungen nun nicht in Kraft treten.
Konkret sah das Gesetz Regelungen zum Schutz von Kindern in folgenden Bereichen vor:
  • Frühe Hilfen und Netzwerke für werdende Eltern
    Das Gesetz schafft die rechtliche Grundlage dafür, leicht zugängliche Hilfeangebote für Familien vor und nach der Geburt und in den ersten Lebensjahren des Kindes flächendeckend und auf einem hohen Niveau einzuführen bzw. zu verstetigen. Alle wichtigen Akteure im Kinderschutz - wie Jugendämter, Schulen, Gesundheitsämter, Krankenhäuser, Ärztinnen und Ärzte, Schwangerschaftsberatungsstellen und Polizei - werden in einem Kooperationsnetzwerk zusammengeführt.
  • Stärkung des Einsatzes von Familienhebammen
    Das Bundesfamilienministerium wird mit einer Bundesinitiative ab 2012 vier Jahre lang jährlich 30 Millionen Euro zum Ausbau des Einsatzes von Familienhebammen zur Verfügung zu stellen.
  • Ausschluss einschlägig Vorbestrafter von Tätigkeiten in der Kinder- und Jugendhilfe
  • Alle hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der öffentlichen und freien Jugendhilfe müssen ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen. Ehrenamtliche vereinbaren mit den Trägern, für welche Tätigkeiten dies nötig ist.
  • Befugnisnorm für Berufsgeheimnisträger zur Informationsweitergabe an das Jugendamt
    Häufig ist eine Kindesgefährdung für Ärzte oder andere so genannten Berufsgeheimnisträgern als erste erkennbar. Das Gesetz bietet erstmals eine klare Regelung, die einerseits die Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patient schützt, andererseits aber auch die Weitergabe wichtiger Informationen an das Jugendamt ermöglicht.
  • Regelung zum Hausbesuch
    Der Hausbesuch soll zur Pflicht werden - allerdings nur dann, wenn er nach fachlicher Einschätzung erforderlich ist und der Schutz des Kindes dadurch nicht gefährdet wird.
  • Verbindliche Standards in der Kinder- und Jugendhilfe
    Eine kontinuierliche Qualitätsentwicklung wird künftig in allen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe zur Pflicht. Dabei geht es insbesondere um die Entwicklung, Anwendung und Überprüfung von Standards für die Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen und ihren Schutz vor Gewalt. An die Umsetzung von Maßnahmen zur Qualitätsentwicklung und -sicherung soll sich auch die Finanzierung aus öffentlichen Mitteln knüpfen.

Mittwoch, 23. November 2011

Sozialarbeiter, das „Schmierfett“ der Gesellschaft

Folgender Artikel entnommen und zitiert von " http://www.nachdenkseiten.de/?p=11394&mid=5372117 "

Sozialarbeiter, das „Schmierfett“ der Gesellschaft

Verantwortlich: Wolfgang Lieb | Druckversion | Beitrag versenden | < zurück Als damals die Gewalt in England eskalierte, die sogenannten Riots, da fragten hier alle, ob das auch bei uns passieren könnte. Hat da jemand mal die Sozialarbeiter gefragt? Natürlich nicht! Unter mir und meinen Kollegen herrscht Einigkeit diesbezüglich…unter der Oberfläche brodelt es bei weitem mehr als die Öffentlichkeit wissen möchte…deshalb werden wir auch nicht gefragt – clever! Von Tim Schumacher.

Ich bin seit etwa 15 Jahren in der Sozialen Arbeit tätig (Dipl. Sozialpädagoge/Sozialarbeiter) und habe verschiedene Berufsfelder kennengelernt.
Ich hatte das Pech, direkt in der Zeit des Niedergangs der Sozialen Arbeit in diese Profession geraten zu sein (Ökonomisierung, Kolonialisierung durch das System, etc.).
Meine Eltern, beide Erzieher im öffentlichen Dienst seit über 25 Jahren, konnten vernünftig von ihrem Gehalt leben (Hauskauf, Abbezahlt bis zur Rente, hoher Lebensstandart ohne Angst vorm Alter)…den ökonomischen Druck freilich haben auch sie gespürt, ähnlich einer Schraubzwinge, die immer fester zugreift. Stressbedingte Krankheiten inklusive. Aber, sie haben es geschafft.
Ich dagegen habe nun nach etwa 15 Jahren in der Sozialen Arbeit meinen ersten unbefristeten Anstellungsvertrag bekommen und arbeite seit 2 Jahren bei einem kleinen, etwas sozialistisch geprägten Bildungsträger im Berliner Wedding. Ich habe hier im Soldiner Kiez auch schon 5 Jahre gelebt, in der Koloniestraße. Hier in Berlin gilt diese Gegend als berüchtigt. Noch vor wenigen Jahren haben sich die Gangs dieser überwiegend durch Menschen mit arabischen Hintergrund geprägten Wohngegend auf offener Straße erschossen und Raub und Mord standen auf der Tagesordnung.
Das Projekt “Soziale Stadt” brachte hier den Wandel. Intensive Betreuung des Stadtteils zeigten Erfolge, das scharfe Eingreifen der Polizei zerstreute die Banden (Die meisten Anführer mussten lange Haftstrafen verbüßen). Der Kiez war im Aufbau als ich dort hin zog. Ich arbeitete etwa 2 Jahre als Schulsozialarbeiter an den Oberschulen entlang der Pankstraße in Wedding. Die Theodor-Plivier-Oberschule und die Oberschule-Am-Brunnenplatz. Jeweils eine ganze Stelle pro Schule. Diese Schulen waren in großen Schwierigkeiten, ähnlich der Rütlischule damals, aber eigentlich geht es fast allen Oberschulen ähnlich, zumindest in den Problemvierteln.
In diesen Schulen lernt man nicht mehr, man kämpft die ganze Zeit. Um Geduld, um Aufmerksamkeit, um Anerkennung, um Ruhe…ein ewiger Kampf. Die Lehrer sind erschöpft. Viele von ihnen methodisch und didaktisch total überfordert mit dieser Art Schülerschaft. Sie sind zu wenige und von den wenigen werden viele auch noch Stressbedingt krank. Der Rest kämpft meist verbissen ums Überleben. Mangelnder Respekt vor den Lehrern bis hin zu offenen Drohungen, Erpressung, Dealerei, Gewalt auf dem Schulhof und bei den Schülern ist eine Neigung zur Schulverweigerung weit verbreitet. Etliche verlassen die Schulen ohne Abschluss.
Nach der Schulsozialarbeit übernahm ich mit einer Kollegin zusammen ein Jugendzentrum direkt in meiner Straße, Ecke Kolonie-/Soldienerstraße. Die Jugendbanden hatten das Jugendzentrum, das ehemals unter staatlicher Trägerschaft stand, gesprengt. Die Sozialarbeiter kamen mit den massiven Gewaltübergriffen und dem Druck durch die Gangs nicht klar und verließen nach und nach das Jugendzentrum, bis es ganz geschlossen wurde und nun in freie Trägerschaft übergehen sollte.
Mein damaliger Träger gewann die Ausschreibung und aus ehemals 5 eingeplanten Vollzeitstellen, wurden 2 x 30 Std.  Stellen. Diese wurden jeweils mit etwa 1250 Euro brutto vergütet. Unser Träger hingegen konnte bei diesem Geschäft wunderbare Gewinne einstreichen. Er darf als gemeinnütziger Träger zwar keine Gewinne erzielen, um sie auszuschütten, aber er darf erzielte Gewinne reinvestieren. Dieser Träger kauft sich z.B. gerne Gebäude und bezahlt seine höchsten Angestellten in der Etappe bei weitem nicht so mies, wie seine Mitarbeiter an der Front. Das, so habe ich gelernt, nennt man Sozial Management! Ich musste mich von diesem Träger nach kurzer Zeit trennen, obwohl mir die Arbeit in meinem “eigenen” Jugendclub sehr gefiel, doch das Gehalt sank immer weiter, es wurde immer weiter eingespart und gepresst, da habe ich dann irgendwann aufgegeben und bin gegangen.
Nun bin ich bei besagten Bildungsträger, immer noch im Kiez und immer noch gerne hier im Wedding. Allerdings wohne ich hier nicht mehr, das wurde meiner Freundin doch zu unheimlich hier. Nachts mit der U-Bahn und durch (kaputtgesparte) dunkle Straßen? In manchen Vierteln ein Risiko in Berlin.
Mein Träger bewirbt sich sowohl auf Ausschreibungen für Maßnahmen des Jobcenters, als auch um Projekte des ESF (Europäischer Sozial Fond). Das sind unsere Hauptarbeitsfelder. Eine Hälfte des Teams betreut und qualifiziert Erwachsene, ich mit der anderen Hälfte betreue und schule Jugendliche zwischen 16 und 24 Jahren. Wir bereiten sie auf die externen Schulprüfungen der Stadt Berlin vor, bei denen sie den einfachen und erweiterten Hauptschulabschluss, sowie den mittleren Schulabschluss mit einer staatlichen Prüfung nachholen können. Die meisten haben keinen, oder einen sehr schlechten Hauptschulabschluss, aber es gibt auch viele, die hier bei uns auf den mittleren Abschluss hinarbeiten.
Bei uns sind die absoluten „Knaller“. Oft Jugendliche die kaum eine Schule von innen gesehen haben. Oft mehrfach vorbestraft, manche auf Freigang. Wir arbeiten mit der Jugendgerichtshilfe, dem Jobcenter, dem Jugendamt und diverser anderer Träger Sozialer Dienste zusammen und stehen bei Bedarf auch mit den Sozialarbeitern im Gefängnis, den Eltern der Jugendlichen oder den Anwälten in Kontakt. Wir rufen im Notfall die Härtefallkommission an oder begleiten die Jungs zur Ausländerbehörde oder ins Gericht. Wir sind ein Team aus überwiegend Sozialarbeitern und Lehrern. Wir sind ein gutes Beispiel dafür, dass ein Träger, der seine Angestellten gut behandelt und Teams mit Bedacht und unter Einbindung der Mitarbeiter bildet, auch großen Erfolg bei der Arbeit haben kann. Dennoch: Trotz aller Erfolge, trotz des guten Klimas bei der Arbeit, wir, die wir an der Basis dieser gesellschaftlichen Pathologien arbeiten, sehen den Abgrund auf den wir zurasen genau. Die Soziale Arbeit dieser Zeit wurde von einem Kollegen von mir auf den Punkt gebracht: “Wir”, sagte er, “sind das Schmierfett der Gesellschaft”. Klingt banal, aber wenn man länger drüber nachdenkt…
Exakt während meiner “Karriere” in der Sozialen Arbeit hat sich diese, ähnlich wie der Rest unseres Landes, auf bizarre Art verändert. Gerade als sich die Profession als “Sozialarbeitswissenschaft” eine eigene handlungswissenschaftliche Disziplin schaffen wollte, kam die Ökonomisierung mit Neusprech und normierten Beobachtungsbögen. Mensch, mehre deinen Nutzwert. Der Staat gab seine Einrichtungen und Aufgaben an nun freie Träger der Wohlfahrtshilfe. Die “Alteingesessenen” AWO, CARITAS; DIAKONIE; usw. wurden nervös. Schnell kroch der Kapitalismus in alle Ecken und die angedachte, anregende “Trägervielfalt” verkam zu großen Monopolen. Korruption und Veruntreuung, wohin man auch schaut.
Der kleine Mitarbeiter in diesem “Sozial Management Betrieb” wird mit unangemessenen Löhnen ausgebeutet und kann praktisch zu keiner Zeit den Idealen der professionellen Sozialen Arbeit gerecht werden, die noch vor gar nicht so langer Zeit, das “Jahrhundert der sozialen Arbeit” ausgerufen hat. Wir hatten damals die Chance eine echte Wissenschaft zu werden. Eine eigene Ethik, einen eigenen Forschungsgegenstand, eine eigene Definitionshoheit in unserer Profession. Nichts davon ist geblieben. Die getroffenen Positionsbestimmungen der akademischen Impulsgeber haben uns an das Monster verraten.
Nun sind wir für “Soziale Probleme” zuständig und was ein “Soziales Problem” ist, das sagt uns der Staat. Der gleiche Staat, das System, das unsere “Klienten” zu Hauf ins Unglück drängt, beauftragt uns, sie zu ”disziplinieren”, sie auf “Kurs” zu bringen, “Fit” zu machen…usw. Für Menschlichkeiten zahlt aber keiner, nur für Fallzahlen. Wir sind das Schmierfett der Gesellschaft.
Unsere Aufgabe ist es den sozialen Frieden, den “Status Quo” aufrecht zu erhalten. Wenn dabei noch ein paar “verwertbare” Individuen rauskommen, umso besser. Da der Sozialarbeiter, ebenso wie der Pfleger oder Erzieher, keine “Werte” produziert – es wird ja nichts verkauft, nicht wahr? – so hat auch der Sozialarbeiter, Erzieher, Pfleger an sich keinen Wert. Ganz im Gegenteil. Er ist potentiell gefährlich. Denn würde er sich auf das besinnen, was unsere Profession im Kern eigentlich ausmacht; käme er zurück auf die altruistisch/humanistischen Wurzeln der Sozialen Arbeit, der grandiosen theoretischen Aufbauarbeit unserer Vordenker, nicht nur aus den Bezugswissenschaften der Soziologie und Philosophie, sondern auch aus unserer eigener Profession (z.B. die lebensweltorientierte Soziale Arbeit nach Thiersch 1992). Würden wir das alles, was uns in diese neue, aufregende Wissenschaft mitgegeben wurde verstehen und auch umsetzen…herje, wir wären eine echte Gefahr für das Establishment. Wir wären Kämpfer im Namen “Lebenswelt”. Wir würden zusammen mit der Soziologie (Protosoziologie) das destruktive Wirken des “Systems” auf die Lebenswelt untersuchen, dokumentieren. Wir wären auf der Seite der Menschen, die unter diesem System leiden. Wir würden uns verbandlich organisieren, politisch wirken, öffentlich Stellung beziehen, Nachhaltig und ganzheitlich arbeiten und forschen. Wir wären der Chefankläger dieses Menschenverachtenden Systems…denn wir sind es, die bei den Menschen sind und alles “erleben” was sie erleben…

Doch nichts davon ist geblieben…Wir sind das Schmierfett der Gesellschaft…
Als damals die Gewalt in England eskalierte, die sogenannten Riots, da fragten hier alle, ob das auch bei uns passieren könnte. Hat da jemand mal die Sozialarbeiter gefragt? Natürlich nicht! Unter mir und meinen Kollegen herrscht Einigkeit diesbezüglich…unter der Oberfläche brodelt es bei weitem mehr als die Öffentlichkeit wissen möchte…deshalb wird auch nicht gefragt – clever.
Mechthild Seithes Appell an meine Kollegen kann ich nur unterstützen. Wenn wir uns gegen diese Instrumentalisierung nicht wehren, scheitern wir als Professionelle und als Menschen. Ich möchte nicht als Schmierfett enden…


(1) Zitat: http://www.nachdenkseiten.de/?p=11394&mid=5372117

Dienstag, 22. November 2011

Mein Klientel geht nicht freiwillig zu einem Gruppenangebot



Zitat aus der Bergedorfer Zeitung vom 21.11.2011 von Jugend- und Familienrichter Masch

".... Was aber fehlt den jugendlichen Straftätern? „Sie kennen weder Empathie noch Mitleid noch andere gesellschaftliche Regeln. Wir müssen die Jungs an die Hand nehmen, sie brauchen Erziehung“, sagt der Richter, der jährlich etwa sechsmal eine geschlossene Unterbringung anordnet. Die kostet zwar schon allein ohne Therapiestunden 300 Euro am Tag, aber Masch mag den politischen Wunsch, stationäre Hilfen zur Erziehung einzusparen, nicht teilen: „Mein Klientel geht nicht freiwillig zu einem Gruppenangebot im Kinder- und Familienhilfezentrum......." (1)


(1) Zitat aus:  http://www.bergedorfer-zeitung.de/bergedorf/article127698/Pruegeln_ist_tabu_Bergedorfs_Jugend_benimmt_sich_besser.html

"Sozialraum kein Ersatz für Rechtsansprüche"


Der Deutsche Berufsverband Soziale Arbeit Landesverband Hamburg äußert sich zur Umsteuerung in der Hamburger Jugendhilfe. Bericht entnommen und wörtlich zitiert von:

http://dbsh-hamburg.de/2011/11/%e2%80%9esozialraum%e2%80%9c-kein-ersatz-fur-rechtsanspruche/

 

„Sozialraum“ kein Ersatz für Rechtsansprüche

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Die SPD-regierten Länder („A-Länder“) wollen gemeinsam mit den kommunalen Spitzenverbänden u. A. Rechtsansprüche auf Hilfeleistungen für Kinder, Jugendliche und Familien abschaffen. Dieser im KJHG (SGB VIII) festgeschriebene individuelle Rechtsanspruch soll durch eine Gewährleistungsverpflichtung ersetzt werden. Damit verbunden sollen die Angebote der Jugendhilfe unter dem Stichwort „Sozialraum“ mit dem Ziel des Ausgleichs sozialer Benachteiligung an die „Regelinstitutionen“ (frühe Hilfen, Kindertagesbetreuung und Schulen) angebunden werden, die individuelle Einzelhilfe solle zur Ausnahme werden. Am 4. November veranstalten die zuständigen Staatssekretäre in Berlin einen sogenannten „Expertenworkshop“, der entsprechende Gesetzesvorschläge erarbeiten soll. Fach- /Berufsverbände, Wissenschaftler und Gewerkschaften kritisieren, dass Experten/innen der Jugendhilfe aber nicht eingeladen wurden. Eine Delegation von Fachleuten aus ganz Deutschland trifft sich morgen um 11:00 Uhr am Tagungsort der Staatssekretäre vor der Hamburgischen Landesvertretung um Fachlichkeit in der Kinder- und Jugendhilfe Gehör zu verschaffen.
Zum Hintergrund:
In dem entsprechenden Initiativpapier heißt es zur Begründung: „Die Ausgestaltung des Hilfeangebots als individueller Rechtsanspruch und die starke Stellung freier Träger bei der Ausgestaltung des Hilfeangebotes macht dieses System immer teurer“. Daneben würde es Hinweise geben, dass die SPFH in vielen Fällen ins Leere laufe. Dagegen könnten wirksamere und kostengünstigere sozialräumliche Alternative nicht ausgebaut werden, weil diese nicht als Pflichtaufgaben definiert seien. Ferner wird in dem Papier ein „Wildwuchs freier Träger“ und eine „Dynamik zur wirkungslosen Praxis“ beklagt.
Prof. Dr. Michael Böwer, Leiter des Fachbereich Kinder- und Jugendhilfe im Deutschen Berufsverband für Soziale Arbeit: „Für diese Behauptungen gibt es keine Belege. Vielerorts sind Bereiche der Jugendhilfe soweit zurück gefahren worden, dass nur noch reaktive Hilfestellungen angeboten werden. Die Haushaltslage vieler Kommunen hat sich längst auf die Qualität der Kinder- und Jugendhilfen niedergeschlagen. Da der Ausbau der Kita-Plätze für unter Dreijährige und im Kindesschutz zu Mehrausgaben führt, springt man, rhetorisch gezielt verpackt, auf die Kostenbremse.“
In den vergangenen Jahren haben die Kommunen bis dahin kommunale Aufgaben ausgeschrieben und an Wohlfahrtsverbände und verstärkt auch private Anbieter möglichst preiswert vergeben. Zugleich wurde der Kernbereich der fallbezogenen Jugendhilfe, der ASD, personell zusehends ausgedünnt und zudem bürokratisiert. Man sah das Heil in der Beauftragung freier Träger, oftmals ohne partizipative sozialpädagogische Diagnostik und kleinschrittiger Zielprüfung beauftragter Maßnahmen. Hinzu kommt das Fehlen ausreichend konkreter qualitativer Vorgaben in der Ausschreibung und entsprechender Dialoge – denn auch das hätte zusätzlichen Aufwand gekostet. Als Alternative wird nun auf Regeleinrichtungen wie Schule, Kindergärten und Familienberatungen verwiesen, die bereits jetzt mit ihren wachsenden Aufgaben überaus gefordert sind.
„Dass alles wissen auch die Fachleute in den Länderministerien. Tatsächlich werden Ihnen die Rechte von Kindern, Jugendlichen und Familien schlichtweg zu teuer. In Folge wird ein Systembruch einkalkuliert, der uns nicht nur in Form neuer Skandale einholen wird. Die Jugendhilfe würde zur reinen Ordnungsbürokratie zusammengestampft und die Rechte von Kindern und Jugendlichen auf Persönlichkeitsentwicklung außerhalb schulischer Normen hätten kaum noch Bedeutung mehr“, kommentiert Wilfried Nodes, Pressesprecher des DBSH den Versuch der Staatssekretäre.
Der Fachbereich Kinder- und Jugendhilfe im Deutschen Berufsverband für Soziale Arbeit fordert dagegen:
• „Wir wehren uns gegen alle Versuche, die Rechtsansprüche des Kinder- und Jugendhilfegesetzes auszuhebeln oder umzuinterpretieren.
• Natürlich begrüßen wir eine Selbstverpflichtung der Kommunen zu gewährleisten, dass sich die Sozialräume und vorhandene Regeleinrichtungen besonders der Förderung von Kindern, Jugendlichen und Familien und nicht nur ihren ursprünglichen Aufgaben stellen. Aber weder kann dadurch der Rechtsanspruch aufgelöst werden, noch werden dadurch individuelle und von den Betroffenen wählbare Hilfen überflüssig.
• Will man den Sozialraum „aktivieren“, dann müssen aber ohnehin bereits hoch geforderte Einrichtungen wie Schule und Kitas besser ausgestattet und qualifiziert werden. Das spart erst mal kein Geld, sondern kostet.
• Die Kollegen im „fallführenden“ ASD benötigen wieder mehr Zeit, um die Einzelfälle zu begleiten und die richtigen Hilfen im Dialog von Fachkräften und Betroffenen heraus zu arbeiten.
• Erst auf der Basis von fachlichen Standards und klaren Zielsetzungen kann mit freien Trägern subsidiäre Zusammenarbeit in Hilfen (Sozialpäd. Familienhilfe, Einzelförderung, usw.) erfolgen.
• Wir fordern, dass wir bei der Diskussion, die hier geführt wird, als sozialpädagogische Fachkräfte einbezogen werden.
• Wir fordern, dass die qualitative Struktur der Jugendhilfe wieder so gestaltet wird, dass wir Fachkräfte angemessene Arbeitsbedingungen vorfinden, die die eigene körperliche wie psychische Gesundheit sichern.“

Donnerstag, 17. November 2011

Zitat von www.anerkennung-sozial.de von Julia Russau

" Geringer werdendes Finanzvolumen darf nicht Ausgangslage für Veränderung sein
Eine sozialraumorientierte, präventive Familienhilfe kann durchaus finanzielles Sparpotential bieten, und zwar dann, wenn Situationen, in denen intensiv-pädagogische oder therapeutische Maßnahmen erforderlich sind, von vornherein vermieden werden können. Dass es sich hierbei um langfristige, zukünftige Effekte handelt, liegt auf der Hand. Und dass es eine solide Basis braucht, auf der die neuen Strukturen und eine veränderte Fachlichkeit aufbauen können, dürfte ebenfalls klar sein. Ein geringer werdendes Finanzvolumen darf nicht Ausgangslage für Veränderung sein. Ein Perspektivenwechsel in einer modernen Sozialen Arbeit, die am Wohle der Kinder, Jugendlichen und ihrer Familien orientiert ist und gleichzeitig eine hohe Professionalität der Mitarbeitenden fordert, braucht – gerade am Anfang des Prozesses – nicht Reduktion, sondern Investition. Eine Verlagerung des Schwerpunktes einer „intervenierenden“ zu einer „präventiven“ Sozialen Arbeit kann nicht gelingen, indem die eine Fachlichkeit gegen die ausgespielt wird, sondern nur als schrittweiser, ganzheitlicher Prozess, der die Einbindung aller Akteure erfordert.
Hinsichtlich des Prozessverlaufs und der aktuellen Diskussion bleiben daher nach wie vor viele Fragen offen.
An die Prozessverantwortlichen:
  • Warum wurden die einzelnen Akteure und die Öffentlichkeit nicht in umfassendem Maße in den Prozess eingebunden und über diesen informiert?
  • Welche Möglichkeiten der Transparenz und Partizipation sind zukünftig geplant oder können entwickelt werden?
An die Politik:
  • Welche Änderungen des SGB VIII werden konkret angestrebt?
  • Inwiefern soll gewährleistet werden, dass der Rechtsanspruch auf Erziehungshilfe (wie parteiübergreifend bestätigt) weiterhin seine Gültigkeit haben wird?
  • Welche alternativen Finanzierungsmodelle gibt es, um die Anfangsinvestition in den Ausbau sozialräumlicher Strukturen zu ermöglichen?
An die Sozialarbeitenden:
  • Inwiefern sind die Professionellen selber zukünftig bereit, eigene sowie organisationale fachliche/perspektivische Veränderungen mitzutragen und mitzugestalten?
  • Inwiefern kann das Finanzierungssystem sozialer Hilfen zukünftig transparenter und effizienter gestaltet werden?
An die Wissenschaften:
Den WissenschaftlerInnen obliegt es, den Diskurs, die Begleitung und Evaluation sozialräumlicher Projekte auch zukünftig fortzuführen, um einer Neuorientierung Sozialer Arbeit die notwendige theoretische Basis zu geben. So ist es z.B. nicht richtig, dass Sozialraumorientierung ambulante Hilfen grundsätzlich ausschließt. Die Wohnung der Betroffenen und das familiäre Leben in dieser gehören ebenso zum sozialen Raum wie Kindertageseinrichtungen oder Schulen. Eine grundsätzliche Bevorzugung gruppenspezifischer Angebote gegenüber Maßnahmen der Einzelfallhilfe kann weder pädagogisch sinnvoll sein, noch ist sie im Sinne des Ansatzes der Sozialraumorientierung.
  • Inwiefern ergänzen sich Maßnahmen intervenierender Einzelfallhilfen mit präventiv-orientierten Sozialraum-Ansätzen?
  • Welche spezifischen Grundhaltungen und Kompetenzen müssen die Professionellen auf allen Ebenen mitbringen, um einer sozialräumlich ausgerichteten Jugend- und Familienhilfe gerecht zu werden?
Update 1: Einen lesenswerten Artikel zur Thematik schreibt auch Stefan Klein auf blogsocial.de: Quo vadis Familienhilfe? – Zwischen Neustrukturierung und Zerschlagung.

<= Zurück zu: Teil 3: Familienhilfe mit neuer Perspektive: Vom Fall zum Feld
Anmerkungen:
21: zit. n. Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung (Hrsg.): Abschlussbericht zum Projekt Sozialraumorientierung in der Berliner Jugendhilfe (Projekt SRO), Berlin 2008, S.2. url: http://www.berlin.de/imperia/md/content/sen-jugend/jugendpolitik/sozialraumorientierung/abschlussbericht_sro_2008.pdf?start&ts=1220353658&file=abschlussbericht_sro_2008.pdf
22: ebd. S. 2
23: ebd. S. 3 "


Zitiert aus:
http://www.anerkennung-sozial.de/2011/10/teil-4-familienhilfe-zwischen-neuausrichtung-und-sparpolitik/

Dienstag, 15. November 2011

Stellenkürzungen in der Kinder- und Jugendliche wären kontraproduktiv, weil sie die Steuerungsmöglichkeiten der Jugendämter im Hinblick auf „Qualität und Quantität der gewährten Hilfen“ beschneiden würden.

Wissenschaftler sehen wenig Möglichkeiten für Einsparungen bei Jugendhilfe

Wissenschaftler sehen in einer Expertise für den Landkreistag kaum Möglichkeiten für Einsparungen in der Kinder- und Jugendhilfe. Die Fallzahlen dürften mittelfristig kaum sinken, Stellenkürzungen wären kontraproduktiv.

Nonnweiler. In der Kinder- und Jugendhilfe des Saarlandes sind auf absehbare Zeit keine Einsparungen möglich. Diesen Schluss legen erste Ergebnisse einer Studie des Instituts für Sozialpädagogische Forschung in Mainz nahe, das gegenwärtig im Auftrag des Sozialministeriums, des Landkreistags und der saarländischen Jugendämter erstellt wird.
Dem Gutachten zufolge, das Institutsmitarbeiter Heinz Müller gestern auszugsweise vor der Hauptversammlung des Landkreistags vorstellte, ist aufgrund zunehmender sozialer Probleme und eines wachsenden Anteils von Alleinerziehenden in der Gesellschaft in den nächsten Jahren nicht mit sinkenden Fallzahlen in der Kinder- und Jugendhilfe zu rechnen. Da das Saarland von sozialen Problemen stärker betroffen sei als Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg, seien hier auch die Fallzahlen höher. Zugleich kommen die Forscher zu dem Ergebnis, dass sich eine gut ausgebaute Regelstruktur im Bereich der Jugendhilfe noch am ehesten „bedarfsmindernd auf die Nachfrage nach intervenierenden Hilfen auswirken kann“. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Stellenkürzungen in der Kinder- und Jugendliche wären kontraproduktiv, weil sie die Steuerungsmöglichkeiten der Jugendämter im Hinblick auf „Qualität und Quantität der gewährten Hilfen“ beschneiden würden.


Nach Angaben von Müller wurden im Saarland im vorigen Jahr 7781 Hilfen zur Erziehung gewährt, nachdem es im Vorjahr 7151 waren. Besonders drastisch stiegen demnach in diesem Zeitraum die Fallzahlen bei der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche, nämlich um 31,4 Prozent. Müller machte Defizite der Schulen für diesen Anstieg mitverantwortlich. Trotz eines Personalzuwachses in der Kinder- und Jugendhilfe von 139 im Jahr 2009 auf 143 im vorigen Jahr sei die durchschnittliche Fallbelastung für eine vollzeitbeschäftigte Fachkraft an saarländischen Jugendämtern von 51 im Jahr 2009 auf 54 im vorigen Jahr gestiegen. In Rheinland-Pfalz habe die Fallbelastung im vorigen Jahr im Schnitt bei 46 Fällen gelegen. nof 



Beitrag vom: 11.11.2011, 13:06 aus Saarbrücker Zeitung



Stellenkürzungen in der Kinder- und Jugendliche wären kontraproduktiv, weil sie die Steuerungsmöglichkeiten der Jugendämter im Hinblick auf „Qualität und Quantität der gewährten Hilfen“ beschneiden würden.

Donnerstag, 10. November 2011

Wolfgang Hammer
Neue Praxis oder Paradigmenwechsel?
Zur Notwendigkeit einer Weiterentwicklung der Hilfen zur
Erziehung und des Kinderschutzes
Gesellschaftliche Ausgangslagen der Hilfen zur Erziehung
und des Kinderschutzes in Deutschland
Die erzieherische Überforderung von Familien, meist einhergehend mit Armutskreisläufen,
in denen die betreffenden Familien »stecken«, und die daraus
resultierende Bildungsbenachteiligung hat deutlich zugenommen. Nach Angaben
der Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik wurden im Jahr
2007 in Deutschland für ca. 810.000 Kinder und Jugendliche direkt oder indirekt
Hilfen zur Erziehung geleistet.
Die Zahl der jungen Menschen ohne Schulabschluss liegt in einigen Großstädten
zum Teil bei 15 Prozent, in Förderschulen bundesweit bei sechs Prozent und im
sogenannten Überganssystem landen 34 Prozent aller Schulabsolventen (Bildungsbericht
2010).
Wenn dies aber so ist, dann muss die Zielrichtung des gesamten auf Erziehungsunterstützung
ausgerichteten Hilfesystems sich aus der Fokussierung auf individuelle
Versagensbetrachtung und damit auch aus der Fokussierung auf Einzelhilfen
lösen; sie muss stattdessen vorrangig auf Angebote im sozialen Nahraum setzen,
die infrastrukturell insbesondere in sozial belasteten Stadtteilen niedrigschwellige
Zugänge zur Alltagsentlastung und Kompetenzstärkung von Familien zur Verfügung
stellen.
Es gibt große Übereinstimmungen in den Problemlagen der Familien in spezifischen
Schlüsselsituationen der Erziehung, angefangen bei der Grundversorgung von
Säuglingen und Kleinkindern, über Bindungsstörungen, Schulprobleme und bis hin
zu Delinquenz und damit einhergehenden spezifischen Belastungserscheinungen
(siehe Ki GGS -Studie, Ravens-Sieberer et al., 2007) wie psychische Erkrankungen,
Suchtabhängigkeit.
Dies zeigt klar auf, dass bei einer Belastungsquote allein schon bei den förmlichen
Erziehungshilfen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz in 2007 von fast
fünf Prozent aller Kinder und Jugendlichen mit steigender Tendenz – gegenüber
ein Prozent bei der Verabschiedung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes im Jahr
1990 – gesellschaftliche Verursachungen wesentlicher sind als individuell erklärbares
Versagen. Die sogenannte Leistungsdichte zeigt zum Teil eine HzE-Quote
in belasteten Stadtteilen bei zehn Prozent aller Kinder und Jugendlichen.
Für vergleichbare Lebenslagen, die zudem noch durch Isolierung und mangelnde
Unterstützung in Alltagsfragen durch soziale Netzwerke gekennzeichnet sind, muss
es im sozialen Nahraum Unterstützungsangebote geben, die sowohl entlastend
im Hinblick auf erzieherische Überforderungen wirken als auch den Schutz von
Kindern und Jugendlichen zum Ziel haben. Dies setzt voraus, dass eine leistungs-fähige, leicht zugängliche Infrastruktur mit dem System der Einzelhilfen wirksam
kommunal verknüpft wird.
Gerade die Isolierung in der Lebenssituation versperrt Zugänge, auch wenn
das Hilfesystem noch so gut entwickelt ist, und reduziert zugleich die Chancen
individuell ausgerichteter Hilfen. Denn wenn zu wenig Erziehungsverantwortung
übernommen wird, so ist dies gerade bei Menschen aus sozial belasteten Lebenslagen
nicht primär als Folge eines moralischen oder bildungsmäßigen Defizits zu
verstehen, sondern durch den mangelnden Zugang zu Alltagskompetenzen und
Alltagsentlastung und den Mangel an Perspektiven begründet. Letzteres kann nur
durch den Kontakt mit anderen Menschen und regelhaftes Nutzen institutioneller
Hilfen erreicht werden.
Die bisherige Fokussierung auf Einzelhilfen in den Hilfen zur Erziehung, die
bundesweit in den letzten Jahren parallel zu den Fällen von Inobhutnahme und
Sorgerechtsentzug drastisch ansteigen, ist bereits jetzt zum Teil eine Fehlallokation
bzw. im Hinblick auf die mit den Hilfen angestrebten Ziele des § 1 SGB VIII
dysfunktional.
Diese Fehlallokation bezieht sich weniger auf Ressourcen, d. h. den Einsatz von
Geld und Menschen, sondern besteht vor allem im Hinblick auf das Ziel, die Angst
vor Versagen und die Hoffnungslosigkeit von Eltern in spezifischen Situationen
aufzulösen und deren Selbstbewusstsein und Handlungsfähigkeit zu stärken und
einen Beitrag zur Verwirklichung des Rechtes junger Menschen zur Entwicklung
einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu leisten.
Es fehlen die Erfahrung der Gemeinsamkeit mit anderen Betroffenen und die
daraus erwachsende Kraft und Bereitschaft, mehr Erziehungsverantwortung zu
übernehmen. Häufig geht es weniger um Pädagogik, sondern vielmehr um die
Nutzung von Infrastruktur, Alltagsentlastung, den Erwerb von Alltagskompetenzen,
die Aufhebung von Isolierung und die Schaffung von nachbarschaftlichen und
professionellen Netzwerken. Auch beim pädagogischen Hilfebedarf geht es häufig
nicht um das Kontingent an Besprechungsstunden und die Face-to-face-Kontakte zu
Familien, sondern um gezielte Hilfen für Eltern und für Kinder und Jugendliche.
Bei der Passgenauigkeit von Einzelhilfen in Verbindung mit der Handlungskompetenz
im infrastrukturellen Feld geht es um die Geeignetheit von Hilfen, nicht
um die Menge des Hilfeumfangs.
Ein Hilfesystem, das zu stark auf Einzelhilfen setzt, ist nicht nur teuer, sondern
wirkt auch entmutigend und entwürdigend. Dies ist keine Kritik an den Leistungen
der Erziehungshilfen, sondern eine Kritik der inflationären Nutzung dieser Hilfen
durch die Kommunen ohne Verknüpfung mit leistungsfähigen infrastrukturellen
Angeboten. Einzelhilfen sind nur dann gesellschaftspolitisch und humanitär
zielführend, wenn sie als zusätzliches Hilfesystem auf einem gut entwickelten,
leicht zugänglichen System der alltagsentlastenden Infrastruktur aufsetzen. Das
gilt insbesondere für die ca. drei Viertel aller schulpflichtigen Minderjährigen in
den Hilfen zur Erziehung, bei denen eine Verknüpfung mit der für sie zum Teil
belastenden Schulwirklichkeit unerlässlich ist.
Die stärkere Einbeziehung des engeren sozialen Umfeldes, wie in § 27 Abs. 2 Satz 2
SGB VIII als Soll-Norm formuliert ist, müsste zum zentralen Kriterium für die Geeignetheit
des Hilfesystems werden. Hier liegt auch die Chance einer Verknüpfung
der Finanzierungsinstrumente von Einzelhilfen und Infrastruktur.
Gleiches gilt auch für den relativ neuen § 36a, der nicht nur der Selbstbeschaffung
einen Riegel vorschieben sollte, sondern in Absatz 2 dem Öffentlichen Jugendhilfeträger die Möglichkeit bietet, die niedrigschwellige Inanspruchnahme von ambulanten
Hilfen zuzulassen und mit den Leistungsanbietern hierzu Vereinbarungen
zu treffen. Auf dieser Rechtsgrundlage könnten die Kommunen einen Großteil der
Angebote und Projekte der Frühen Hilfen in eine auf Dauer angelegte Finanzierung
überführen und damit zugleich Infrastruktur in belasteten Stadtteilen schaffen.
Die konservative rechtliche Interpretation des Kinder- und Jugendhilferechts
aus dem Jahr 1990 begünstigt jedoch eine Einzelfallorientierung, weil die Hilfen
zur Erziehung als individuell einklagbares Recht ausgestaltet sind, während die
Schaffung alltagsentlastender präventiver Infrastrukturen und Angebote als in
Bezug auf Umfang und Qualität nicht festgelegter Gestaltungsauftrag formuliert
wurde, der haushaltspolitisch oft als freiwillige Leistung »übersetzt« wird (Münder
et al., 2009).
Unter solchen Entwicklungen hatten in den letzten Jahren sowohl die Familienförderung
als auch die Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit phasenweise zu leiden,
während die Ausgaben für die Hilfen zur Erziehung ständig angestiegen sind.
Der Anstieg im Bereich »Hilfen zur Erziehung« ist ein Reflex des Hilfesystems
auf eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung und begründet sich daher nicht nur
fachlich. Er erfolgt in dem System, in dem die besten Voraussetzungen bestehen,
die zusätzlichen Mittel für eine Ausweitung der Hilfeangebote realisieren zu
können.
Zur Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels in den Hilfen
zur Erziehung
Anders als beim Ausbau der Kindertagesbetreuung hat bei den Hilfen zur Erziehung
die Schaffung von Rechtsansprüchen allerdings nicht zu einer zukunftsorientierten
Stärkung und Unterstützung der Infrastruktur bzw. zu ihrem Ausbau
geführt, die einer Bildungsbenachteiligung entgegenwirken.
Die häufig sehr spezialisierten Angebote im Bereich »Hilfen zur Erziehung«
bieten bundesweit häufig Hilfen nicht im Verbund mit anderen infrastrukturellen
Leistungen der Frühen Hilfen, der Familienförderung, der Jugendarbeit, der Kindertagesbetreuung
oder Schulen an.
Auf ihr hochspezialisiertes Hilfeangebot wird von den Jugendämtern zunehmend
mehr zurückgegriffen, um sicherzustellen, dass überforderte Eltern und gefährdete
Kinder schnell eine Hilfe bekommen, bei der die Jugendämter zumindest theoretisch
die Möglichkeit haben, sie regelhaft zu überprüfen. Dies dient zugleich der
Absicherung in befürchteten Strafverfahren.
Nur wenige Städte in Deutschland – wie beispielsweise Hamburg – haben die
Dynamik dieses Kreislaufs auch systematisch haushalterisch durchbrochen und
haben parallel zum Ausbau der Hilfen zur Erziehung auch die Infrastruktur im
Bereich der unterstützenden Angebote im sozialen Umfeld etwa durch Frühe Hilfen,
Kinder- und Familienhilfezentren, Sozialräumliche Angebote flächendeckend
ausgebaut, gerade in sozial belasteten Stadtteilen.
Bisher hat jedoch keine Stadt in Deutschland einen grundsätzlichen Systemwechsel
eingeleitet, weil die Rechtssystematik des Kinder- und Jungendhilferechtes
traditionell interpretiert wird.
Deshalb gilt es flächendeckend einen Paradigmenwechsel einzuleiten, der unter
der Leitlinie steht: Erzieherische Unterstützung wird regelhaft durch eine wohnortnahe, alltagsentlastende unterstützende Infrastruktur geleistet. Familien sollen
Unterstützungsangebote erhalten, die ihre Alltags- und Erziehungskompetenz
nachhaltig stärken.
Der Rechtsanspruch auf eine geeignete Hilfe zur Erziehung wird im Regelfall am
wirkungsvollsten – und mit der stärkeren Beachtung der Menschenwürde – durch
entsprechende Angebote der Infrastruktur erfüllt, die eine große Einzelwirkung
entfalten. Darauf aufsetzend sind auch die Erziehungshilfen gesellschaftspolitisch
und fachlich sinnvoll.
Nur so wird es gelingen, das Hilfs- und Unterstützungsangebot für überforderte
Familien in Deutschland und die Ausrichtung des gesamten Kinder- und Jugendhilfesystem
zukunftsfähig zu machen und in das nächste Jahrzehnt zu führen.
Politische und mediale Ausgangslage der Hilfen zur
Erziehung und des Kinderschutzes
Seit 2004 werden Kindesvernachlässigungen um ein Vielfaches aufmerksamer von
den Medien und der Politik wahrgenommen als zuvor. Dies zeigt insbesondere der
geschärfte Blick für die Zahl der infolge von Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung
gestorbenen Kinder. Diese Zahl war auch in den 1970er und 80er
Jahren ähnlich hoch wie in der zweiten Hälfte des letzten Jahrzehnts, die Medien
und die Politik haben dieses Phänomen jedoch über viele Jahrzehnte nur peripher
wahrgenommen. Seit 2004 sind einige Namen der Opfer von Kindesvernachlässigung
mit Todesfolge bekannter als die von vielen Bundesministern, Schauspielern
und Sportlern. Tote Kinder wie Jessica, Kevin und Lea-Sophie schrieben so in
Deutschland Kinderschutzgeschichte.
Das Anwachsen der öffentlichen Aufmerksamkeit hat gravierende Auswirkungen
auf die Entwicklung des gesamten Hilfesystems, insbesondere der Hilfen zur
Erziehung und des Kinderschutzes gehabt. Zum einen hat die große Aufmerksamkeit
die öffentliche Wahrnehmung erhöht, die Bereitschaft von Institutionen und
der Bevölkerung gesteigert, genauer auf die Notlagen von Kindern zu schauen
und gegebenenfalls Meldungen an die Jugendämter zu geben. Die von der Politik
zur Verfügung gestellten Mittel wurden aufgestockt, um die seit Jahren zum Teil
problematische Personalsituation in den Sozialen Diensten der Jugendämter zu
verbessern. Damit, dass der Kinderschutz mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit
rückt, sind zugleich starke Einflüsse auf das fachliche Handeln verbunden.
Insbesondere wird der Kontrollaspekt höher bewertet, nicht nur aus fachlichen
Gründen, sondern auch weil die Tendenz zugenommen hat, insbesondere bei
Todesfällen auch gegen sozialpädagogische Fachkräfte Freier Träger oder Jugendämter
zu ermitteln.
Auch der Gesetzgeber hat reagiert: mit einer Konkretisierung der Schutzvorschriften
in § 8a des Kinder- und Jugendhilfegesetzes und mit dem Versuch, ein
Bundeskinderschutzgesetz zu verabschieden, der zwar in der Wahlkampfphase der
letzten Legislaturperiode gescheitert ist, aber im neuen Entwurf der Bundesregierung
und nach Kenntnis der Stellungnahme des Bundesrates und der Fachorganisationen
gute Chancen hat ab 1.1.2012 in Kraft zu treten. Seit der Regelung im
§ 8a hat sich das Meldeverhalten weniger von Nachbarn aber von Institutionen wieinsbesondere Polizei, Schulen und Kindergärten erheblich verändert. Die Jugendämter
reagieren auf diese Menge von Meldungen häufig aus Sichergründen mit
der Verfügung von Erziehungshilfen. Diese ist ein zentraler Faktor des Anstiegs
der Hilfen seit 2005.
Stärkung der Kinderrechte im Hilfesystem
Kein anderer Jugendhilfebereich ist so stark durch Spannungsverhältnisse geprägt
wie der Kinderschutz. Dies ist kein Zufall. Die Umsetzung des staatlichen Wächteramts
als Auswirkung von Artikel 6 Grundgesetz, nach dem die staatliche Gemeinschaft
darüber wacht, dass die Eltern die ihnen zuvörderst obliegende Pflicht
der Erziehung ihrer Kinder wahrnehmen, gehört zu den schwersten Aufgaben in
pädagogischen Handlungsfeldern. Deswegen sollen im Folgenden die zentralen
Spannungsverhältnisse aufgezeigt werden, mit dem Ziel, einen Orientierungsrahmen
für fachliches Handeln zu setzen. Der Anspruch muss darin bestehen, diese
Spannungsverhältnisse zu gestalten, und nicht darin, eine Entscheidung für oder
gegen einen der Spannungspole zu treffen oder die Spannung aufzulösen.
Das Spannungsverhältnis zwischen Elternrecht einerseits und Kindesrecht bzw.
Kindeswohl andererseits ist verfassungsrechtlich unauflösbar in Artikel 6 des
Grundgesetzes vorgegeben. Nähert man sich bei der Suche nach einer Orientierung
dem Thema, so empfiehlt es sich, das Spannungsverhältnis aus Sicht eines Kindes
zu betrachten und »aufzuhellen«: Jedes Kind hat das Recht und erwartet auch,
dass seine leiblichen Eltern es liebevoll umsorgen und ihm die nötige Hilfestellung
beim Aufwachsen geben. Dieses besondere Verhältnis zwischen Eltern und Kindern
muss auch aus Sicht der Kinder, nicht nur aus Sicht der Eltern, jede mögliche
Unterstützung der staatlichen Gemeinschaft erfahren. Das heißt, jedes Kind muss
darauf vertrauen können, dass die staatliche Gemeinschaft – und insbesondere die
Kinder- und Jugendhilfe – dazu beiträgt, überforderte Eltern darin zu stärken, den
berechtigten Ansprüchen ihrer Kinder gerecht zu werden.
Gleichzeitig muss jedes Kind aber sicher sein, dass es nicht alleine bleibt, wenn
Eltern dieser Anforderung trotz Unterstützung nicht gewachsen sind und ihr Kind
aufgrund mangelnder Bereitschaft oder Fähigkeit gefährden. In diesem Moment
braucht jedes Kind den starken Staat, der als staatliche Gemeinschaft sein Wächteramt
ausübt und dem Kind dabei hilft, sein Leben menschenwürdig führen zu
können. Eine Stärkung der Kinderrechte im Alltag und in der rechtlichen Ausgestaltung
ist damit der zentrale Orientierungsrahmen für das Spannungsverhältnis
von Elternrecht und Kindeswohl. Handlungsbedarf besteht hier u. a. im einfachen
Recht, insbesondere darin, dass im Kinder- und Jugendhilferecht die Hilfen zur
Erziehung als individueller Rechtsanspruch nur den Eltern zur Verfügung stehen,
nicht aber den Kindern, die nicht einmal ein eigenes Antragsrecht haben. Lediglich
die Inobhutnahme ist das bescheidene Zugeständnis des riesigen Leistungskataloges
des SGB VIII, der eine unmittelbare Jugendhilfeleistung ermöglicht, die durch
Minderjährige eingefordert werden kann.
Ich teile die Einschätzung vieler Fachorganisationen, dass die Erweiterung des
Grundgesetzes um eigenständige Kinderrechte Folgen für das einfache Recht hätte.
Denkbar wäre eine Orientierung an Artikel 24 der EU-Grundrechts-Charta, in der
das Recht des Kindes nicht nur gegenüber seinen Eltern, sondern vor allem auch
gegenüber der staatlichen Gemeinschaft fixiert wurde. Da Deutschland es geschafft hat, dieser Charta mit breiter Mehrheit im Bundestag und Bundesrat zuzustimmen,
ist es für mich nur noch schwer nachvollziehbar, wieso es nicht möglich ist, eine
analoge Erweiterung des Grundgesetzes für die Kinderrechte vorzunehmen.
Abschließend möchte ich jedoch darauf hinweisen, dass ein wirkungsvoller Kinderschutz
und das Wahrnehmen von Kinderrechten nicht etwa davon abhängig
gemacht werden können, dass eine solche Grundgesetzänderung eintritt. Sie ist
auch nicht die zwingende Voraussetzung für eine Verbesserung der Rechtssituation
der Kinder. Wer verantwortungsvoll für Kinder handeln will, kann dies heute schon
tun – dies gilt sowohl für Jugendämter wie für Familiengerichte als dem Teil der
staatlichen Gemeinschaft, dem das Grundgesetz den Auftrag gegeben hat, über
das Kindeswohl zu wachen.
Die Kinder und Jugendlichen in Deutschland brauchen eine kommunal gut
ausgestattete Infrastruktur von Hilfen – beginnend mit der Schwangerschaft und
der Geburt – als Regelangebot von Jugendhilfe und Gesundheitshilfe. Genauso
muss die Zusammenarbeit von Schulen und Jugendhilfe zur Regel werden. Darauf
aufsetzend sind die Einzelhilfen notwendig und sinnvoll, mit einem höheren
Maß an individueller Diagnostik und individueller Hilfeplanung, weil bei aller
Gemeinsamkeit von Lebenslagen und Problemen in bestimmten Konstellationen
individuelle Hilfeangebote genauso zwingend sind wie individuelle Förderangebote
im Bildungsprozess.
Das Spannungsverhältnis zwischen Prävention und
Intervention
Eine Intervention bedeutet, meist in Form der Inobhutnahme, das unmittelbare
Handeln bei einer drohenden Kindeswohlgefährdung, um Leib und Leben eines
Kindes zu schützen. Deshalb werden eine Inobhutnahme und Anrufung der Familiengerichte
immer dann unverzichtbar sein, wenn es kurzfristig oder auf Dauer
nicht gelingt, das notwendige Mitwirken von Eltern zu erreichen, bzw. Zeit benötigt
wird, um Eltern wieder in die Lage zu versetzen, ihre Erziehungsaufgabe zu
erfüllen. Eine solche Intervention begründet sich sowohl kinderrechtlich als auch
verfassungsrechtlich aus Artikel 6 Grundgesetz, gesellschaftspolitisch legitimiert sie
sich aber nur, wenn zuvor die Möglichkeit bestanden hat, präventive Hilfeangebote
zu vermitteln, und diese durch die Eltern nicht angenommen werden konnten.
Das Spannungsverhältnis zwischen Hilfe und Kontrolle ist in der Geschichte
häufig dazu benutzt worden, um ausschließlich auf angebotsorientierte Hilfen zu
setzen und damit den Fachkräften der Jugendhilfe das unerfreuliche Thema der
Kontrolle zu ersparen. Diese Aufspaltung von Hilfe und Kontrolle entspricht der
Aufteilung des Personals aus schlechten Krimis in good guys und bad guys. Ein
professionelles Hilfeverständnis macht Kontrolle zu einem professionellen Instrument
der systematischen Hilfe für einen Menschen, so wie das beispielsweise
in der Medizin völlig unumstritten ist. Eine solche Kontrolle ist kein isoliertes,
auf grundsätzlichem Misstrauen basierendes Instrument, sondern ein integraler
Bestandteil von Fachlichkeit, so wie Schone (2008) dies formuliert hat. Vor diesem
Hintergrund ist die Gemeinsamkeit von Hilfe und Kontrolle auch ein Aspekt
professioneller Rollenklarheit, die im Kontakt zwischen Hilfesystem und Familie
– und zwar unabhängig davon, ob dieser Kontakt über einen Freien Träger oder
das Jugendamt erfolgt – unabdingbar ist.
Nicht zu begründen ist jedoch die Entwicklung von sogenannten Frühwarnsystemen,
die über die Auflistung von Merkmalen infrastruktureller und individueller
Art hinausgehen und Ansätze von Rasterfahndungen entwickeln, wie sie in einigen
Modellen von Frühwarnsystemen in Deutschland vorgesehen sind. Jede Form systematischer
Überprüfung von Eltern als grundsätzlich Verdächtige ist eine fachlich
nicht legitimierte Datensammlung. Jede verdeckte Datensammlung im Rahmen
eines Hausbesuches, der angeblich nur dem Erstkontakt dient, ist fachlich unredlich
und im Hinblick auf den Kinderschutz entwürdigend und dysfunktional.
Eckpunkte zur Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung
und des Kinderschutzes in Deutschland
Hilfen zur Erziehung und Kinderschutz müssen Teil einer Gesamtpolitik für Kinder
werden. Eine fachlich verantwortliche Weiterentwicklung des Hilfesystems der
Jugendhilfe ist nur im Gesamtzusammenhang der Weiterentwicklung des gesamten
auf Kinder bezogenen Hilfe- und Schutzsystems nachhaltig zu gestalten.
Veränderte Lebenslagen machen veränderte Hilfe- und Schutzsysteme erforderlich:
Die Lebenslagen von Familien haben sich gegenüber der gesellschaftlichen
Ausgangslage bei der Verabschiedung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes im
Jahr 1990 erheblich verändert. Erziehungsüberforderungen und Kindeswohlgefährdungen
sind Lebens- und Risikolagen, die durch Isolierung, Überforderung,
mangelnde Unterstützung im Alltag und große persönliche Verunsicherung im Erziehungsverhalten
geprägt sind. Dies bedeutet nicht nur, sich auf diese Lebenslagen
präventiv und unterstützend auszurichten, sondern auch, dass wir mehr brauchen
als das Instrumentarium der klassischen Einzelhilfen.
Das Zusammenwirken von Infrastruktur und Einzelhilfen ist unabdingbar: Ein
zeitgemäßes Hilfeangebot macht es dringend erforderlich, dass gerade in sozial
belasteten Stadtteilen das Zusammenwirken von entlastender Infrastruktur einerseits
und den notwendigen Einzelhilfen andererseits neu konzipiert wird.
Nunmehr geht es darum, die Verknüpfung dieser Infrastruktur mit den klassischen
Instrumentarien der Einzelhilfen – insbesondere bei der Ausgestaltung ambulanter
Erziehungshilfen für Familien – so auszurichten, dass die wesentlichen Ausgangslagen
für erzieherische Überforderung und Kindeswohlgefährdung in den Fokus
genommen werden.
Eine Überwindung der Isolierung und die Nutzung vorhandener infrastruktureller
Angebote sowie eine stärkere Fokussierung vor allem auf die alltagsstützenden –
und weniger auf die pädagogischen – Kompetenzen bei der Grundversorgung von
Säuglingen und Kleinkindern oder bei der schulbegleitenden Stützung von Familien
setzen eine verbindliche wohnortnahe Ausrichtung alle sozialpädagogischen
Einzelhilfen voraus. Eine auswärtige stationäre Unterbringung wegen mangelder
Beschulbarkeit in der Herkunftsgemeinde ist keine geeignete Hilfe sondern Ausdruck
eines Systemversagens mit negativen Auswirkungen auf die Kinder und
Jugendlichen und mit hohen Kosten, die keinem nützen.
Um diesen Paradigmenwechsel möglich zu machen, bedarf es auch einer Neuausrichtung
der Sozialen Dienste der Jugendämter.
Die Sozialen Dienste müssen zur zentralen Vermittlungsinstanz aller städtischen
Leistungen werden: Die Rolle der Sozialen Dienste muss angesichts der großen
Zahl der gesellschaftlichen Problemsituationen mit überforderten Familien darinbestehen, Einzelhilfen und die soziale Infrastruktur zu verknüpfen. Vor diesem
Hintergrund ist die Weiterentwicklung der Sozialen Dienste in Deutschland mit
einer starken professionellen Ausprägung der Funktionsbereiche Eingangsmanagement,
Netzwerkmanagement und Fallmanagement ebenso die unabdingbare
Voraussetzung für die Weiterentwicklung eines wirkungsvollen präventiven Jugendhilfesystems
wie für die Weiterentwicklung eines im Einzelfall wirksamen
Kinderschutzes.
Der dazu notwendige Prozess der Neuausrichtung der Sozialen Dienste setzt
auf die Stärkung der professionellen Kompetenz und auf die Unterstützung des
pädagogischen Handlungsspielraums der Fachkräfte, um vielfältige Angebote im
Bereich der Hilfen zur Erziehung und der übrigen Angebote von Jugendhilfe,
Gesundheitswesen und Schule nutzbringend sowohl infrastrukturell als auch im
Einzelfall einsetzen zu können.
Diese Neuausrichtung der Sozialen Dienste bedeutet zugleich auch den Abschied
von einem Berufsbild, in dem die soziale Betreuung einzelner Familien im Zentrum
stand. Diese Entwicklung ist jedoch nicht – wie manche Kritiker befürchten – eine
Veränderung des Berufsbildes hin zu einer Technokratisierung der Steuerung von
Hilfeprozessen, sie bedeutet vielmehr die Entlastung von Bürokratie und die Festschreibung
fachlicher Verfahrensstandards, die sich in den fachlich erwünschten
Prozessabläufen widerspiegeln.
Der fachliche Freiheitsgrad des professionellen Handelns wird dadurch erhöht
und nicht verringert. Die Sozialen Dienste werden durch diese Neuausrichtung zur
zentralen gesellschaftlichen Vermittlungsinstanz insbesondere für sozial benachteiligte
Familien, um für diese das gesamte Hilfe- und Unterstützungspotenzial der
staatlichen Gemeinschaft zu erschließen.
Die regelhafte Kooperation zwischen Jugendhilfe, Gesundheitshilfe und dem
Schulwesen wird zum Qualitätsmerkmal eines ganzheitlichen Hilfesystems, ja sie
ist dessen unabdingbare Voraussetzung. Gerade der Ausbau der Frühen Hilfen
und die Sicherung der Grundversorgung von Säuglingen und Kleinkindern in erzieherisch
überforderten Familien zeigen, welch große Bedeutung die regelhafte
Verknüpfung zwischen Gesundheitshilfe und Jugendhilfe beim Kinderschutz hat.
Weder bei der infrastrukturellen Ausgestaltung der Hilfen noch in jedem Einzelfall
kann eine ausschließlich aus pädagogischer oder gesundheitlicher Sicht orientierte
Hilfe wirksam werden. Wirksam ist nur die Verknüpfung beider Systeme.
Im Hinblick auf die Schule ergibt sich bei zunehmendem Ausbau des Ganztagsunterrichts
für alle schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen zudem die Notwendigkeit,
dass das Gesamtangebot an ambulanten Erziehungshilfen sich auch
auf diese neuen Zeitstrukturen einrichten muss. Gleichzeitig muss von beiden
Systemen früher auf Störungen im Entwicklungsprozess reagiert werden. Das
regelhafte Zusammenwirken von Schulen – gerade im Einzugsbereich sozial belasteter
Stadtteile – und Jugendhilfe, sowohl auf infrastruktureller Ebene wie auch
im Einzelfall, muss damit zu einem Qualitätsmerkmal der Kooperation zwischen
Schule und Jugendhilfe werden.
Dies dient nicht nur der Überwindung erzieherischer Unsicherheiten, sondern
vor allem auch dem Ziel einer höheren Chancengerechtigkeit und dem Ausgleich
sozialer Bildungsgefälle.

------------------
Literatur
Münder, J., Meysen, T., Trenczek, T. (Hrsg.), 2009: Frankfurter
Kommentar zum SGB VIII: Kinder- und Jugendhilfe.
6., vollst. überarb. Aufl., Weinheim
Ravens-Sieberer, U./Wille, N. et al., 2007: Psychische
Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland.
Ergebnisse aus der BELLA -Studie im Kinder- und
Jugendgesundheitssurvey (Ki GGS ). Bundesgesundheitsblatt
– Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz,
50 (5-6): 871-878
Schone, R., 2008: Kontrolle als Element von Fachlichkeit
in den sozialpädagogischen Diensten der Kinder- und
Jugendhilfe, Berlin
Wiesner, J., 2006: SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe.
3. Aufl., München

Verf.: Dr. Wolfgang Hammer, Abteilungsleiter FS 2 Kinder- und Jugendhilfe,
Freie und Hansestadt Hamburg, Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und
Integration, Amt für Familie, Hamburger Str. 37, 22083 Hamburg
E-Mail: wolfgang.hammer@basfi.hamburg.de

Für den Fortbestand des Rechtsanspruchs auf Hilfe zur Erziehung im SGB VIII!

Reinhard Joachim Wabnitz

 
Worum geht es?
Seit Mai 2011 wird auf Seiten einiger SPD-geführter Bundesländer (»A-Länder«) in Positionspapieren betreffend eine Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe) unter dem Stichwort »Wiedergewinnung kommunalpolitischer Handlungsfähigkeit zur Ausgestaltung von Jugendhilfeleistungen « unter anderem vorgeschlagen, den Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung durch eine objektiv-rechtliche Gewährleistungsverpflichtung der Träger der öffentlichen Jugendhilfe zu ersetzen. Was bedeutete dies, was steht dahinter, wer wäre davon betroffen, und wie ist darauf zu reagieren?
Der Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung gemäß § 27 Abs. 1 SGB VIII Bei der Hilfe zur Erziehung nach den §§ 27 ff. SGB VIII handelt es sich um die »klassische« Einzelfallhilfe für Kinder und Jugendliche bei individuellen Erziehungs- und Entwicklungsdefiziten mit einem breiten, differenzierten Leistungsspektrum von der Erziehungsberatung bis zur vollstationären Heimunterbringung. § 27 Abs. 1 SGB VIII lautet seit Inkrafttreten des KJHG/SGB VIII 1990/1991 unverändert wie folgt:
»Ein Personensorgeberechtigter hat bei der
Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen
Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn
eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen
entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist
und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und
notwendig ist.«
§ 27 Abs. 1 hat also lediglich zwei Tatbestandsvoraussetzungen. Zunächst muss es sich um ein Erziehungsdefizit eines einzelnen Kindes oder Jugendlichen handeln, bei dem eine seinem Wohl entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist. Diese Situation muss entweder bereits eingetreten sein oder zumindest konkret drohen. Des Weiteren muss es so sein, dass die im Einzelfall insbesondere nach den §§ 28 bis 35 SGB VIII auszuwählende Hilfeart für die Entwicklung des Kindes »geeignet« und »notwendig« ist. Liegen die genannten beiden Tatbestandsvoraussetzungen des § 27 Abs. 1 SGB VIII vor, haben die/der Personensorgeberechtigte(n) einen eindeutigen und einklagbaren subjektiven Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung. Ein »Haushaltsvorbehalt« oder Ähnliches besteht dabei ausdrücklich nicht.

Objektive Rechtsverpflichtungen und subjektive Rechtsansprüche
Mit Blick auf die eingangs skizzierte Initiative der A-Länder ist nunmehr die Unterscheidung zwischen objektiven Rechtsverpflichtungen der Träger der öffentlichen Jugendhilfe (»muss«, »soll«, »kann«) und subjektiven Rechtsansprüchen junger Menschen oder Personensorgeberechtigter (»hat/haben Anspruch auf«) von grundlegender Bedeutung. Objektive Rechtsverpflichtungen stellen gleichsam ›staatsinterne Verpflichtungen‹ dar. Die Erfüllung derselben ist allein Sache der öffentlichen Träger. Dies gilt auch für Gewährleistungsverpflichtungen (wie etwa gemäß § 79 Abs. 2 SGB VIII).
Demgegenüber eröffnen nur subjektive Rechtsansprüche (»Anspruch«) den Klageweg zu den Gerichten. Nur auf ihrer Grundlage können Kläger ihre berechtigen Anliegen auch gegenüber der öffentlichen Hand durchsetzen. Aufgrund von Rechtsvorschriften, die (lediglich) Träger der öffentlichen Verwaltung zu einem bestimmten Handeln verpflichten, ist dies so nicht der Fall, weil sich der Bürger auf die Einhaltung (rein) objektiv-rechtlicher Verpflichtungen in der Regel nicht berufen und diese deshalb auch nicht »einklagen« kann (dazu umfassend Wabnitz, Rechtsansprüche gegenüber Trägern der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch, Berlin 2005).
Der Staat »richtet« sich deshalb in besonderer Weise auf das Bestehen von Rechtsansprüchen »ein« und schafft in der Regel die infrastrukturellen und finanziellen Voraussetzungen für die Erfüllung derselben. Rechtsansprüche waren deshalb in der Vergangenheit häufig ganz wesentliche »Motoren« für die Fortentwicklung von Leistungsstrukturen, insbesondere im Sozialrecht. Drei Beispiele mögen dies verdeutlichen. Vor einem halben Jahrhundert wurde eine intensive Diskussion um die Neuordnung des Sozialhilferechts geführt. Wesentliches Ergebnis und zugleich wesentlicher sozialer Fortschritt war, dass Hilfebedürftige nicht mehr als »Objekte« staatlicher Fürsorge angesehen wurden, sondern dass ihnen ein Rechtsanspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt eingeräumt wurde (damals § 4 Abs. 1 BSHG). Ein weiteres markantes Beispiel war die Diskussion um die Einführung eines Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz im Kinder- und Jugendhilferecht (§ 24 Abs. 1 SGB VIII) und dessen Realisierung in den 1990er Jahren aufgrund der Schaffung mehrerer 100.000 zusätzlicher Plätze. Aktuell bemühen sich die Träger der öffentlichen Jugendhilfe intensiv darum, die Tagesbetreuungsangebote für Kinder im Alter unter drei Jahren massiv auszubauen – weil diese ab dem 1. August 2013 gemäß § 24 Abs. 2 SGB VIII einen einklagbaren Anspruch darauf haben werden! Man rechnet mit einem Platzbedarf für mindestens 35 Prozent aller betroffenen Kinder. Bis zum Jahre 2002 gab es in den westdeutschen Bundesländern für weniger als drei Prozent aller Kinder Krippenplätze, obwohl die Träger der öffentlichen Jugendhilfe seit dem Jahr 2002 objektiv-rechtlich verpflichtet waren, in bedarfsgerechtem Umfang Plätze vorzuhalten (dazu Wabnitz, Vom KJHG zum Kinder-förderungsgesetz. Die Geschichte des Achten Buches Sozialgesetzbuch von 1991 bis 2008, Berlin 2009, S. 141 ff., 256 ff.).

Zur Entwicklung der Aufgaben und Ausgaben in der Kinder- und Jugendhilfe und zur Situation der öffentlichen Haushalte
Dass Rechtsansprüche erhebliche Kosten nach sich ziehen, verdeutlicht die folgende
Abbildung über die Ausgabenentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe:
Abbildung: Ausgaben nach Leistungsbereichen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland
                                                          1995              2000               2005                 2009
Angaben absolut (in 1.000 EUR)
Kinder- und Jugendarbeit                 1.301.845    1.411.459       1.377.591        1.559.525
Jugendsozialarbeit                               184.440       219.067          251.960           388.619
Allgemeine Förderung der Familie        60.135         72.430            79.563            32.317
Unterbringung von Müttern mit Kind(ern) 36.507    75.007           108.464         158.130
Tageseinrichtungen für Kinder          9.796.698 10.035.690       11.542.452     15.883.853
Hilfen zur Erziehung u.Ä.                 3.811.116     4.857.443        5.668.067      7.104.488
Mitarbeiterfortbidlung                             22.343         17.526             15.041           19.400
Sonstige Ausgaben                                934.254        841.381          979.986       1.128.154
Ausgaben für die Jugendhilfeverwaltung 726.979     773.471          668.088          399.378
Ausgaben d. Obersten Bundesjugendbehörde
                                                                  106.770      112.423          157.626          232.748
Ausgaben insgesamt                             17.020.311 18.464.958     20.865.232     26.906.600
Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Einrichtungen und
tätige Personen; verschiedene Jahrgänge; Zusammenstellung und Berechnung Arbeitsstelle
Kinder- und Jugendhilfestatistik

Die mit Abstand größten Ausgabenvolumina und Ausgabensteigerungen sind danach in den Bereichen Tageseinrichtungen für Kinder sowie Hilfen zur Erziehung und verwandter Leistungen zu verzeichnen. Andererseits stagnieren die Ausgaben für den drittgrößten Leistungsbereich der Kinder- und Jugendhilfe, nämlich die Kinder- und Jugendarbeit, wo sie prozentual von früher ca. acht Prozent auf nunmehr unter sechs Prozent der Gesamtausgaben abgesunken sind. Die Ausgaben für alle anderen vielfältigen Leistungsbereiche und Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe stagnieren weiterhin im Marginalbereich. Die verdeutlicht, welch einen großen Unterschied es ausmacht, ob auf Leistungen nach dem SGB VIII einklagbare subjektive Rechtsansprüche bestehen oder lediglich objektiv-rechtliche Verpflichtungen, denen seitens der Träger der öffentlichen Jugendhilfe vielfach kaum nachgekommen wird.

Wer wäre von einer Rechtsänderung betroffen?
Die Herabstufung der Hilfe zur Erziehung von einer Anspruchsleistung zu einer solchen, die nur noch objektiv-rechtlich im Rahmen einer allgemeinen Gewährleistungsverpflichtung zu erbringen wäre, ginge voraussichtlich massiv zulasten derjenigen jungen Menschen und Familien, denen Hilfe zur Erziehung gewährt wird und deren Zahl in den letzten Jahren in der Tat kontinuierlich gestiegen ist, nach der Statistik der Kinder- und Jugendhilfe nämlich mittlerweile jährlich auf über eine Million (vgl. Lotte/Pothmann, Bedarf an Hilfen für Familien ungebrochen – Inanspruchnahme steigt auf über eine Million junge Menschen, in: KomDat – Kommentierte Daten der Kinder- und Jugendhilfe, Heft 2/2010: 2-4). Rechnet man die Erziehungsberatung als die mit Abstand häufigste Hilfeart heraus, dominieren dabei die in den vergangenen 20 Jahren deutlich ausgebauten ambulanten und teilstationären familienunterstützenden und -ergänzenden Leistungen wie etwa Erziehungs-beistandschaft, Sozialpädagogische Familienhilfe und Erziehung in einer Tagesgruppe. Aber auch die Vollzeitpflege ist von 2000 bis 2009 von ca. 58.000 auf ca. 70.000 Hilfen gestiegen, während die mit Abstand »teuerste« Hilfeart, die Heimerziehung, mit ca. 90.000 Hilfen im Wesentlichen unveränderte Fallzahlen aufweist (a. a. O.).
 
Konsequenzen
In der Konsequenz bedeutete die Abschaffung des Rechtsanspruchs nach § 27 Abs. 1 SGB VIII, dass vor allem junge Menschen und Familien in sozial schwierigen Lebensverhältnissen betroffen wären, denen – abgesehen von der Erziehungsberatung – im Wesentlichen Hilfe zur Erziehung gewährt wird. Es mag in den letzten Jahren erforderlich gewesen sein, Banken mit unzähligen Milliarden Euro zu retten. Es ist gut, dass es für grundsätzlich alle Eltern Elterngeld gibt und der Krippenausbau mit Milliardenaufwand vorangebracht wird. Aber es wäre ein Skandal, ausgerechnet bei der Hilfe zu Erziehung sparen zu wollen – und damit bei denjenigen Bevölkerungsgruppen, die gezielte Einzelfallhilfe benötigen, weil sie die Erziehung ihrer Kinder alleine nicht hinreichend bewerkstelligen können. (Dass die Initiative, von der hier gesprochen wird, ausgerechnet von sozialdemokratischer Seite verfolgt wird, macht die Sache zusätzlich pikant!) Und es wäre ein Widerspruch zu dem von allen relevanten politischen Kräften geforderten Ausbau von Frühen Hilfen und zur ebenfalls unstrittigen Notwendigkeit, zu weiteren Verbesserungen im Bereich des Kinderschutzes zu kommen. Und es wäre auch politisch kurzsichtig, vor dem Hintergrund der absehbaren Überalterung der Bevölkerung in Deutschland ausgerechnet bei denjenigen sparen zu wollen, die wir alle (!) dringend dafür benötigen, in der Zukunft Verantwortung zu übernehmen – nämlich bei den jungen Menschen. Vielmehr müssen zukünftig noch mehr als bislang die poltischen Anstrengungen maßgeblich darauf konzentriert werden, dass möglichst alle jungen Menschen dazu in die Lage versetzt werden – auch durch Hilfe zu Erziehung. Schon in der Vergangenheit galt aus individueller Perspektive: Keiner darf verloren gehen! Noch mehr gilt dies für die Zukunft: Wir können es uns in Deutschland gesamtgesellschaftlich nicht mehr leisten, Potenziale junger Menschen brach liegen zu lassen. Deshalb wird zu Recht Bildung auf der politischen Prioritätenskala nunmehr ganz oben angesiedelt, und genauso muss dies mit Blick auf die sozialpädagogischen Einzelfallhilfen nach dem SGB VIII gelten. Ohne Rechtsanspruch würde es hier jedoch, dies hat der Blick auf das Spektrum aller Leistungen nach dem SGB VIII gezeigt, zu Einbrüchen kommen.
Was ist zu tun?
Zunächst gilt es, über die geplanten Initiativen breit zu informieren. Nach meinem bisherigen Eindruck werden sie im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, weil sie ja aus fachlicher Sicht »so offensichtlich abstrus« erscheinen, noch nicht recht ernst genommen. Dies könnte sich als schwerwiegender Fehler erweisen. Und sodann gilt
es, an allen geeigneten Orten und auf allen Ebenen die Politik auf die möglichen Konsequenzen hinzuweisen und ein breit aufgestelltes »Bündnis für Hilfen zur Erziehung« zu entwickeln – vielleicht nach dem Vorbild der erfolgreichen Initiativen
zur Erhaltung der Bundeskompetenz für das Kinder- und Jugendhilferecht im Vorfeld der Föderalismusreform I 2004/2005. Es ist zu begrüßen, dass die neue praxis hier bereits aktiv geworden ist!
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Verf.: Prof. jur. Dr. phil. Reinhard Joachim Wabnitz, Magister rer. publ.,
Ministerialdirektor a. D.; Hochschule RheinMain, Fachbereich
Sozialwesen, Kurt-Schumacher-Ring 18, 65197 Wiesbaden
E-Mail: reinhard.wabnitz@hs-rmde

Dienstag, 8. November 2011

Globalrichtlinie Sozialräumliche Angebote der Jugend- und Familienhilfe

Globalrichtlinie Sozialräumliche Angebote der Jugend- und Familienhilfe
1. Geltungsbereich
Diese Globalrichtlinie regelt
• die Aufgabenwahmehmung der Bezirksämter in Bezug auf sozialräumliche Angebote
zur Unterstützung von Kindern, Jugendlichen, Heranwachsenden und
Familien' sowie
• die Verwendung der Haushaltsmittel aus der Rahmenzuweisung „Betriebsausgaben
für sozialräumliche Angebote der Jugend- und Familienhilfe" (4450.684.82).
Diese Regelung gilt auch für die bestehenden Projekte der Sozialräumlichen Angebotsentwicklung,
die auf der Grundlage der Globalrichtlinie J/1203 vom 5.8.2003 gefördert werden.
2. Programmleitlinien
Ergänzend zum Programm Sozialräumliche Hilfen und Angeboten s chaffen die nach dieser
Globalrichtlinie geförderten Angebote eine verlässliche Infrastruktur flexibler Unterstützungsmaßnahmen,
die neben bzw. anstelle von Hilfen zur Erziehung zur Verfügung stehen.
Dazu ist es erforderlich, die Angebote konzeptionell auf die Problemlagen der von den Allgemeinen
Sozialen Diensten (ASD) der Jugendämter betreuten Familien auszurichten sowie
auf Familien, die potentiell Unterstützung des Jugendamtes (ASD) benötigen.Es sollen insbesondere
Familien erreicht werden, die nicht aus eigener Initiative Unterstützung suchen
oder den Weg zum ASD scheuen.
Die zu schaffenden sozialräumlichen Angebote haben das Ziel, sowohl die infrastrukturelle
Leistungserbringung als auch die Leistungserbringung bei individuellen erzieherischen Bedarfen
in Abstimmung miteinander zu verbinden und dadurch zu einer neuen Qualität zu
entwickeln. Die gemeinsame Ausrichtung unterschiedlicher öffentlicher und freier Träger auf
einen Sozialraum soll gestärkt und gefördert werden.
Für die vom ASD betreuten Familien sollen mehr und neue Unterstützungsmöglichkeiten
durch bessere Nutzung und zielgruppengeeignete Erweiterung des vorhandenen Hilfesystems
geschaffen werden. Auf diese Weise soll die Integration der Familien in den Stadtteil
und ein stabilisierendes soziales Umfeld ermöglicht und Isolation begegnet werden. Familien
sollen als Lebensorte erhalten und Trennungen von der Herkunftsfamilie vermieden werden.
Sozialräumliche Angebote sind kein einheitlicher Angebotstypus. Sie können sich auf die
unter Ziffer 3. und 4. dieser Globalrichtlinie dargestellten Zielgruppen, Altersgruppen und
Handlungsschwerpunkte beziehen. Ihre Ausgestaltung orientiert sich an den spezifischen
Ausgangsbedingungen eines Sozialraums. Sozialräumliche Angebote werden in Gebieten
eingerichtet, in denen besondere Unterstützungsbedarfe von Familien und ein hohes Fallaufkommen
an Hilfen zur Erziehung festzustellen sind. Die Bezirksämter gewährleisten die
laufende Überprüfung und den festgestellten Bedarfen entsprechende Weiterentwicklung der
vorhandenen Angebotsstruktur.
Alle sozialräumlichen Angebote müssen Methodenvielfalt und unterschiedliche Wege der
Zielgruppenansprache bereit halten, indem sie die niedrigschwellige Erreichbarkeit über offene
Zugänge in die Angebote mit der Durchführung verbindlicher Einzelhilfen in Kooperation
mit dem ASD des zuständigen Jugendamtes verbinden.
Die in einer Kooperationsvereinbarung mit dem Bezirksamt (Fachamt für Jugend- und Familienhilfe
bzw. Fachamt für Sozialraummanagement) geregelte verbindliche Zusammenarbeit
der Träger sozialräumlicher Angebote mit dem ASD ist eine Voraussetzung für die Förderung
eines Projekts im Rahmen dieser Globalrichtlinie.
Die sozialräumlichen Angebote sollen die Fallzahlen der Hilfen zur Erziehung und die Ausgaben
für Hilfen zur Erziehung begrenzen. Es werden präventiv wirksame Angebote gefördert,
die dazu beitragen, dass jugendamtliches Handeln nicht erforderlich wird. Weiterhin
werden Angebote gefördert, die als Alternative zu Hilfen zur Erziehung oder zur Begrenzung
der Dauer einer Hilfe zur Erziehung in Einzelfällen genutzt werden, in denen sozialräumliche
Angebote die geeignete Unterstützung darstellen.
Über die Kooperation von freien Trägern unterschiedlicher Leistungsbereiche mit den für alle
Familien bedeutsamen Regeleinrichtungen und dem jeweils zuständigen ASD der Bezirksämter
soll die gemeinsame Verantwortung öffentlicher und freier Träger für Familien mit besonderem
Unterstützungsbedarf sowie für sozial belastete Gebiete gestärkt werden. Die Integration
in den Stadtteil und der Aufbau informeller privater Netzwerke sollen ebenso voran
gebracht werden wie die erfolgreiche (Re-) Integration in die örtlichen Regeleinrichtungen.
Auf diese Weise sollen die Voraussetzungen für gelingende Übergänge in Kita, Schule, Berufsvorbereitung
und Ausbildung sowie der Verbleib in diesen Systemen gesichert und
schließlich gesellschaftliche Teilhabe hergestellt werden.
2.1. Adressaten
Adressaten der sozialräumlichen Angebote sind Familien in belastenden Lebenslagen, die
besondere Unterstützung bei der Erziehung bzw. im Prozess des Aufwachsens ihrer Kinder
benötigen und folgende Merkmale aufweisen:
• Familien und Alleinerziehende mit Kleinkindern
• junge Menschen in Übergang zur Elternschaft
• Familien in Trennungs- und Scheidungssituationen
• Familien in Krisen
• Kinder und Jugendliche deren schulische mit besonderen individuellen, familiären
oder sozialen Problemen einhergehen
• Jugendliche und Heranwachsende in der Phase der Verselbständigung (Übergang
Schule - Arbeit/Beruf, Übergang in eine selbstständige Lebensführung außerhalb der
Herkunftsfamilie oder aus Einrichtungen der Hilfen zur Erziehung)
• Menschen mit Problemlagen aufgrund eines Migrationshintergrundes
Die sozialräumlichen Angebote sollen insbesondere Familien in Krisensituationen erreichen.
2.2. Struktur
Sozialräumliche Angebote nutzen, ergänzen oder erweitern die vorhandene Infrastruktur
eines Sozialraums. Sie verbinden sie mit Angeboten, die auf individuelle erzieherische Bedarfe
ausgerichtet sind und kombinieren damit offene Angebote mit aufsuchender Arbeit.
Geregelte und verbindliche Kooperationen zwischen den Institutionen ermöglichen die flexible
Gestaltung von Angeboten durch die Bündelung des jeweils spezifischen Wissens, der
Erfahrung, Ressourcen und Methoden. Durch institutionelle Kooperationen werden die Voraussetzungen
für arbeitsteilige einzelfallbezogene Unterstützungskonzepte geschaffen. Alle
sozialräumlichen Angebote arbeiten mit den für die jeweilige Zielgruppe eines Projekts in
Frage kommenden Regeleinrichtungen wie Kitas, Schulen, Einrichtungen des Gesundheitssystems
sowie der beruflichen Integration zusammen.
Um niedrigschwellige Zugänge zu ermöglichen, nutzen alle sozialräumlichen Angebote bereits
bestehende institutionelle Kontakte — etwa der Regelleinrichtungen zu den jeweiligen
Adressaten. Sie beziehen von den Adressaten frequentierte Treffpunkte ein oder schaffen
neue Orte und Gelegenheiten, um die Adressaten zu erreichen.
2.3. Effekte
Das Ziel dieser Globalrichtlinie ist, mit bedarfsorientierten und flexiblen Angeboten im sozialen
Umfeld der Familien mehr und passgenaue Unterstützungsmöglichkeiten zu schaffen,
auf die diese frühzeitig zugreifen können. Die jeweiligen Anbieter erweitern auf diese Weise
ihr Handlungsspektrum und tragen zu einem effizienten und wirtschaftlichen Ressourceneinsatz
bei.
3. Handlungsschwerpunkte
Sozialräumliche Angebote können sich auf einen Handlungsschwerpunkt konzentrieren oder
mehrere Handlungsschwerpunkte bearbeiten. Für alle Angebote ist der ASD der zentrale
Kooperationspartner. Die genaue Ausgestaltung der Zusammenarbeit wird in einer Kooperationsvereinbarung
zwischen den Trägern des Angebots und dem Bezirksamt (ASD) festgelegt.
Darüber hinaus sind die für die jeweiligen Handlungsschwerpunkte wesentlichen Kooperationspartner
einzubeziehen.
3.1. Frühe Hilfen und Hilfen für junge Eltern mit Kleinkindern
Für werdende Eltern und Eltern mit kleinen Kindern sollen regionale präventiv ausgerichtete
Unterstützungs- und Hilfeangebote vorgehalten werden. Frühe Hilfen richten sich an Familien
in besonderen Belastungssituationen und mit geringen Bewältigungsressourcen, insbesondere
Familien mit mehreren Risikomerkmalen wie z.B. psychisch kranker Elternteil,
suchtbelasteter Elternteil, alleinerziehender Elternteil ohne eigenes oder mit geringem Einkommen,
Elternteil unter 20 Jahren, Familie ohne ausreichendes privates Unterstützungsnetzwerk,
ein Kind der Familie ist fremduntergebracht, Familie mit Migrationshintergrund und
mindestens ein Elternteil ohne ausreichende Deutschkenntnisse.
Ein Angebot „Früher Hilfen" besteht aus einer verbindlichen Vernetzung und Kooperation von
Akteuren und Institutionen aus dem Gesundheitsbereich und der Kinder- und Jugendhilfe.
Ziele, Standards und Kennzahlen der Frühen Hilfen sind in der GR Globalrichtlinie GR J
1/10 „Familienförderung und -beratung im Rahmen der Jugendhilfe" geregelt. Sie gelten
auch für die sozialräumlichen Angebote nach dieser GR.
3.2. Unterstützung des Erziehungsgeschehens in den Familien
Sozialräumliche Angebote sollen die Erziehungskompetenz der Eltern sowie deren aktive
Mitwirkung an Problemlösungen fördern.
Dies kann sowohl durch praktische, alltagsunterstützende Hilfen als auch durch gezielten
Kompetenzaufbau in Einzel- und Gruppenangeboten passieren. Die inhaltliche Ausrichtung
orientiert sich an den im jeweiligen Sozialraum festgestellten strukturellen sowie den individuellen
Bedarfen der Zielgruppe.
Es sind vorrangig Angebote zu fördern, die familiäre Krisenintervention leisten. Dies soll in
enger Kooperation mit Einrichtungen geschehen, zu denen die Familien bereits im Kontakt
stehen. Diese Angebote gewährleisten aufsuchende und nachgehende Arbeit.
Kooperationspartner sind Kitas und Einrichtungen der Familienförderung und —Bildung wie
Elternschulen, Erziehungsberatungsstellen und Eltern-Kind-Zentren; Spielhäuser, Einrichtungen
der offenen Kinder- und Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit und Schulen. Je nach
Lage des Einzelfalls können weitere Kooperationspartner in Frage kommen.
3.3. Schulbezogene Angebote
Das Ziel aller sozialräumlichen Angebote in Kooperation mit Schulen ist die Unterstützung
des Bildungserfolgs und die (Re-) Integration in den Regelschulbetrieb. Die Angebote tragen
dazu bei, Brüche in den Bildungsverläufen von Kindern und Jugendlichen zu vermeiden und
gelingende bildungsbiografische Übergänge (Kita-Schule, Grund-/weiterführende Schule,
Schule-Beruf) zu ermöglichen.
Sie werden für Kinder und Jugendliche vorgehalten, deren schulische mit besonderen individuellen,
familiären oder sozialen Problemen einhergehen. Die Angebote werden vorrangig
an Grund- und Stadtteilschulen mit Kess-Faktor 1 und 2 eingerichtet. Es gelten folgende Kriterien:
• Die Einrichtungen der Jugendhilfe (ASD und Träger der freien Jugendhilfe) wirken
darauf hin, sozialräumliche Angebote gemeinsam und in verbindlicher Arbeitsteilung
mit Schulen und den REBUS zu gestalten.
• Es wird eine gemeinsame Zugangssteuerung zwischen Schule, REBUS und den Einrichtungen
der Jugendhilfe vereinbart.
• Alle Beteiligten bringen eigene Ressourcen in das Angebot ein.
• Jeder Partner handelt in eigener Verantwortung: die Schule verantwortet eine auf den
Einzelfall zugeschnittene schulische Unterstützung, Rebus verantwortet die im Einzelfall
erforderliche besondere Förderung, die Einrichtungen der Jugendhilfe verantworten
die individuellen erzieherischen Maßnahmen.
• Für jeden Einzelfall wird zwischen den Beteiligten ein arbeitsteiliges Unterstützungskonzept
entwickelt und es wird eine verbindliche Federführung vereinbart.
• Das Unterstützungskonzept enthält Regelungen für den Krisenfall. Gemeinsam vereinbarte
Unterstützungskonzepte werden nur in wechselseitiger Abstimmung verändert
oder beendet. Bei Dissens zwischen den Beteiligten werden die jeweiligen Leitungen
einbezogen.
3.4. Berufliche Integration
Die Zielgruppen sozialräumlicher Angebote zur Unterstützung der beruflichen Integration
sind arbeitslose Jugendliche und junge Erwachsene, die mit den bisherigen Regelangeboten
nicht oder nur schwer erreicht werden konnten und deren Start in eine eigenverantwortliche
Lebensführung mangels sozialer und beruflicher Integrationsperspektiven gefährdet ist. Sie
sollen beruflich aktiviert, integriert oder an das Erwerbsleben herangeführt werden.
Die Angebote richten sich insbesondere an junge Menschen im Anschluss an Hilfen zur Erziehung
bzw. Volljährigenhilfe und nicht mehr schulpflichtige junge Menschen mit unklaren
oder fehlenden beruflichen Perspektiven, die von den Angeboten des Übergangssystems
nicht erreicht werden.
Ein Teil dieser jungen Menschen lebt bereits in einer eigenen Familie und hat Kinder zu versorgen.
Die sozialräumlichen Angebote kooperieren mit Einrichtungen im Sozialraum, die
von jungen Eltern aufgesucht werden, um Unterstützung bei der Versorgung und Erziehung
von Kleinstkindern zu erhalten, um mit jungen Eltern eine berufliche Perspektive zu entwickeln.
Die sozialräumlichen Angebote nutzen die in den Einrichtungen der Jugendhilfe bestehenden
Zielgruppenkontakte. Zentrale Kooperationspartner sind Berufs- wie Stadtteilschulen,
Träger ausbildungsvorbereitender Maßnahmen, U 25-Teams von jobcenter
team.arbeit.hamburg.
4. Anforderungen an die Gestaltung sozialräumlicher Angebote
Die Förderung der sozialräumlichen Hilfen und Angebote ist an folgende Voraussetzungen
gebunden.
4.1. Anforderungen an die Planung der Bezirksämter
Die Planung und konzeptionelle Ausgestaltung der sozialräumlichen Angebote auf der Basis
dieser Globalrichtlinie ist Aufgabe der Bezirksämter. Sie gewährleisten die laufende Überprüfung
der Bedarfsangemessenheit und Weiterentwicklung des vorhandenen Hilfesystems
entsprechend der in den Kontrakten vereinbarten Verfahren. Sie berücksichtigen dabei Impulse
aus dem ASD wie auch Impulse örtlicher Träger und Gremien. Das aus der Summe
der vom ASD betreuten Familien abzuleitende Wissen um Lebenslagen und Bedarfe der
Familien in einem Sozialraum wird in die laufende Fortschreibung der sozialräumlichen Angebote
einbezogen.
Die Bezirksämter stellen die dafür notwendige Kommunikationsstruktur über ein bezirkliches
Umsetzungskonzept zum Netzwerkmanagement sicher.
Die nach dieser GR geförderten Angebote konzentrieren sich auf Gebiete mit einem hohen
Fallaufkommen an Hilfen zur Erziehung. Sie sind vorrangig mit Einrichtungen und Trägern zu
gestalten und zu vereinbaren, die in den betreffenden Sozialräumen ansässig oder bereits
tätig sind bzw. Kenntnisse über die Gegebenheiten des betreffenden Sozialraums haben.
Die Bedarfsermittlung und jeweilige sozialräumliche Planung der Angebote basiert auf
1. der Auswertung sozialraumbezogener Daten zur Festlegung der Gebiete
2. der Festlegung der Handlungsschwerpunkte entsprechend der Altersverteilung und Problemhintergründe der Zielgruppen3. der Analyse der bereits vorhandenen Infrastruktur sozialer Hilfen als Grundlage für eventuell
notwendige
• Umsteuerung bestehender Angebote,
• Angebotserweiterung in Einrichtungen, in denen bereits Kontakt zu den zu erreichenden
Zielgruppen besteht,
• ggf. Schließung von Lücken durch neue Angebote.
Die Bezirksämter entwickeln geeignete Verfahren zur regelmäßigen (mindestens jährlichen)
Überprüfung und Weiterentwicklung der vorhandenen Angebotsstruktur der sozialräumlichen
Angebote.
4.2. Anforderungen an die Träger der sozialräumlichen Angebote
Für die Förderung der sozialräumlichen Angebote gelten folgende Anforderungen:
• Die sozialräumlichen Angebote sind Verbundprojekte von Trägern aus mindestens
zwei Leistungsbereichen der Jugendhilfe oder angrenzenden Leistungsbereichen.
• Die Angebotsträger haben fundierte Kenntnisse zu den Gebieten bzw. sind im Zielgebiet
verankert.
• Die Angebote kooperieren mit den für den jeweiligen Handlungsschwerpunkt relevanten
Regeleinrichtungen der Jugendhilfe und angrenzender Leistungsbereiche wie
Gesundheitsdienste, Schulen oder Einrichtungen zur beruflichen Integration (s. 4.1-
4.4).
• Die Angebote verbinden die niedrigschwellige Erreichbarkeit über offene Zugänge mit
der Durchführung verbindlicher Einzelhilfen. Sie schaffen damit Orte im Sozialraum,
die der Zielgruppe verlässliche Unterstützung anbieten.
• Die Träger schließen eine verbindliche Kooperationsvereinbarung mit dem für sie zuständigen
bezirklichen Fachamt für Jugend- und Familienhilfe (ASD) ab.
• Für jedes Angebot werden Zielzahlen zu verbindlichen Hilfen vereinbart, die auf Vermittlung
des ASD geleistet werden und für Nutzer/innen, die sich ohne Einschaltung
des ASD direkt an das Angebot wenden.
• Die Träger wirken mit am Berichtswesen zu dieser Globalrichtlinie sowie an den in
JUS IT hinterlegten Dokumentationspflichten zu verbindlichen Einzelhilfen.
• Die Träger wirken in den ASD-bezogenen Netzwerken vor Ort mit.
• Der Vertrauensschutz für anvertraute Informationen ist entsprechend der gesetzlichen
Vorgaben sichergestellt.
• Die in der Rahmenvereinbarung zu § 8a SGB VIII festgelegten Verfahren werden
eingehalten.
4.3. Anforderungen an die Mitwirkung des ASD in den Sozialräumlichen Angeboten
Die Bezirksämter stellen die Präsenz des ASD in den sozialräumlichen Netzwerken sicher.
Jedes Bezirksamt trifft Regelungen zur Netzwerkarbeit und zum Netzwerkmanagement, in
denen die Aufgaben des ASD zur Mitwirkung in den sozialräumlichen Netzwerken, die einzusetzenden
zeitlichen und personellen Ressourcen sowie die Aufgaben und Mandate der
einbezogenen Fach- und Leitungskräfte geregelt sind. Für alle Träger sozialräumlicher Angebote
werden Ansprechpartner im ASD benannt.
Mit jedem Träger eines sozialräumlichen Angebots wird eine Kooperationsvereinbarung geschlossen.
In die Vereinbarungen werden Regelungen der einzelfallbezogenen Zusammenarbeit,
zum Umgang mit möglichen Krisen, Rückmeldungen an den ASD, Datenschutz aufgenommen.
In einzelfallbezogenen Fallgremien können mit den Vertretern der Angebote vor Ort anonymisierte
Fallbesprechungen zur Vermittlung in Angebote oder Entwicklung von individuellen
Hilfesettings stattfinden.
Der ASD dokumentiert alle in sozialräumliche Angebote vermittelten verbindlichen Hilfen in
der Software Cüram.
Der ASD bringt sein aus der Summe der Einzelfälle gewonnenes Wissen zur bedarfsgerechten
Weiterentwicklung der Angebote regelhaft in das ASD-bezogene Netzwerk ein.
5. Definitionen zu Nutzer/innen und verbindlichen Hilfen
Die Träger vereinbaren für jedes Angebot mit dem Bezirksamt Zielzahlen zu den verbindlichen
Hilfen und den Nutzerinnen der offenen Angebote.
5.1. Definition einer in einem sozialräumlichen Angebot durchgeführten verbindlichen
Hilfe
Eine verbindliche Hilfe ist eine zielgerichtete, zeitlich befristete, strukturierte, intensive Begleitung
einer Familie, eines Kindes/Jugendlichen/jungen Volljährigen. Die Fachkräfte des
ASD oder die Fachkräfte des Trägers treffen eine schriftlich fixierte Vereinbarung mit den
Hilfesuchenden über Anlass, Ziele, Handlungsschritte zur Zielerreichung, Erfolgskriterien und
Dauer der Unterstützungsleistung sowie eine gemeinsame Schlusseinschätzung.
Diese Definition gilt für die über den ASD in ein sozialräumliches Angebot vermittelten verbindlichen
Hilfen und für verbindliche Hilfen ohne Vermittlung des ASD. Alle verbindlichen
Hilfen werden im System Cüram dokumentiert. Verbindliche Hilfen ohne Vermittlung des
ASD werden nicht namentlich erfasst. Ihre Dokumentation dient der Erfassung der Auslastung
und Überprüfung der Bedarfsangemessenheit des sozialräumlichen Angebots.
5.2. Definition der Nutzer/innen von sozialräumlichen Angebote
Die Träger der Angebote erfassen die Anzahl der Nutzer/innen niedrigschwelliger offener
Angebote. Dabei wird zum einen die in der Globalrichtlinie Offene Kinder- und Jugendarbeit/
Jugendsozialarbeit eingeführte Definition der Stammnutzer/innen zugrunde gelegt3 und
zum anderen Kurzberatungen" erfasst.
6. Qualitätskriterien und Kriterien der Zielerreichung
Strukturbezogene Qualitätskriterien sozialräumlicher Angebote sind:
• Die Angebote sind jeweils Ergebnisse gemeinsamer Planung und Gestaltung unter
Beteiligung des ASD, Trägern aus unterschiedlichen Leistungsbereichen einschließlich
der relevanten Regeleinrichtungen.
• Die Angebote bieten sowohl offene Treffpunkte als auch verbindliche Hilfen an.
• Die Angebote kooperieren im Rahmen arbeitsteilig gestalteter Unterstützungskonzepte
laufend mit dem ASD. • Die Angebote werden von den Zielgruppen mindestens im Umfang der jeweils vereinbarten
Zielkennziffern zu Verbindlichen Hilfen und Nutzer/innen nachgefragt.
• Effekte auf Fallaufkommen und Ausgaben für Hilfen zur Erziehung sind in den Gebieten
mit sozialräumlichen Angeboten feststellbar.
Die einzelfallbezogenen Erfolgskriterien ergeben sich für Verbindliche Hilfen aus den schriftlich
fixierten Hilfevereinbarungen. (s. 5.1.)
Darüber hinaus gelten für sozialräumliche Angebote grundsätzlich folgende Erfolgskriterien:
• Alltagsaufgaben werden erfolgreich bewältigt.
• Durch sozialräumliche Angebote werden Krisensituationen überwunden.
• Erziehungskompetenzen der Familien werden gestärkt, Lebenssituationen stabilisiert.
• Familien können als Lebensorte erhalten und Trennungen von der Herkunftsfamilie
vermieden werden.
• Die (Re-)Integration in Regeleinrichtungen wird ermöglicht.
• Schritte zum Erreichen einer selbstbestimmten und unabhängigen Lebensführung
sind feststellbar.
• Informelle Unterstützungsnetzwerke werden geschaffen bzw. genutzt.
7. Überprüfung der Zielerreichung in Kontrakten der Behörde für Arbeit,
Soziales, Familie und Integration und der Bezirksämter zur
Umsetzung der Sozialräumlichen Hilfen und Angebote und zur
Steuerung der Hilfen zur Erziehung
Die Verwendung der in der Zweckzuweisung Sozialräumliche Hilfen und Angebote veranschlagten
Mittel wird zwischen jedem Bezirksamt und der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie
und Integration in einem Kontrakt geregelt, dokumentiert und jährlich fortgeschrieben. Im
Interesse einer abgestimmten Fortentwicklung beider Segmente (Sozialräumliche Angebote
gern. Rahmenzuweisung und Sozialräumlichen Hilfen und Angebote gern. der Zweckzuweisung)
werden Maßnahmen zur Erreichung der mit dieser Globalrichtlinie verbundenen Ziele
in die Kontrakte aufgenommen.
Die Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration und die Bezirksämter überprüfen
regelhaft den Grad der Zielerreichung der sozialräumlichen Angebote und der Steuerung der
Hilfen zur Erziehung. Sofern festgestellt wird, dass einzelne Angebote die festgelegten Ziele
nicht erreichen oder wesentliche Vorgaben nicht beachtet werden, wird zwischen dem Bezirksamt
und dem Träger die Umsteuerung des Angebotes verhandelt bzw. die Einhaltung
der Vorgaben angemahnt. Wenn nach einem Anpassungszeitraum von sechs Monaten keine
Änderung eingetreten ist, hat das Bezirksamt die Förderung zum Ende des Zuwendungszeitraums
einzustellen. Geschieht das nicht, behält die Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und
Integration die auf das Angebot entfallenden Mittel ein. Die Mittel werden wieder freigegeben,
sobald das Bezirksamt eine dieser Globalrichtlinie entsprechende Fortschreibung seiner
Planung vorgenommen und die Vergabe einer Zuwendung an ein den Regeln folgendes Projekt
erfolgt.
8. Berichtswesen
Die Umsetzung dieser Globalrichtlinie wird in Form eines regelmäßigen Berichtswesens systematisch
erfasst und dargestellt. Auf der ersten Berichtsebene berichten alle Einrichtungen
bzw. Träger dem bezirklichen Jugendamt jährlich über das abgelaufene Jahr. Auf der zweiten
Ebene berichtet das bezirkliche Jugendamt der Fachbehörde. Die Bezirksämter unterrichten die Fachbehörde jährlich bis zum 31.01. des darauf folgenden Jahres über die quantitativen
Ergebnisse der hier beschriebenen Angebote. Sie nutzen dazu einen Berichtsbogen,
der zwischen Fachbehörde und Bezirksämtern abgestimmt wird. Dabei ist sicherzustellen,
dass die Form der Datenerhebung auf der Grundlage der statistischen Gebiete erfolgt, um
die Kompatibilität zu anderen Auswertungen der Jugend- und Sozialplanung zu gewährleisten.
Eine Kompatibilität mit dem Fachverfahren JUS-IT ist zu beachten. Das Berichtswesen
enthält mindestens Angaben zu:
• Nutzerinnen niedrigschwelliger Angebote (Stammnutzer/innen und Kurzberatungen)
nach Angebot und Altersgruppen
• Verbindliche Hilfen mit und ohne Vermittlung des ASD nach Angebot und Altersgruppen
• Zuordnung der Angebote nach Handlungsschwerpunkten gern. GR
• Zuordnung der Angebote nach Zielgebieten (Basis: Statistische Gebiete)
• Dauer der Verbindlichen Hilfen nach Angebot
• Mit dem Angebot verbundenes Netzwerk nach Form und Beteiligten
• An der Angebotsumsetzung jeweils beteiligte Regeleinrichtungen
Das Berichtswesen des ASD wird in Abstimmung mit den Bezirksämtern entsprechend erarbeitet.
Es enthält mindestens Angaben zu:
• Anzahl der vorn ASD vermittelten verbindlichen Hilfen nach
o Angebot, Altersgruppen und Dauer
o Problem h Intergründen/Beendigu ngsgründen/Zielerreich ung
• Zuordnung der Angebote nach Sozialraum und Handlungsschwerpunkten gern. GR
• Art der Kooperation des ASD mit dem Angebot und weitere Netzwerkbeteiligte
Die Bezirksämter verpflichten die Träger sozialräumlicher Angebote im Zuwendungsbescheid
zur Mitwirkung am Berichtswesen.
9, Schlussbestimmung
Die Globalrichtlinie tritt am 1.1.2012 in Kraft.
Sie tritt am 31.12.2017 außer Kraft.
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1) Aus Gründen der Lesbarkeit werden Kinder, Jugendliche, Heranwachsende und Familien im weiteren Text dieser Globalrichtlinie zusammenfassend als Familien bezeichnet.
2) Die aus der Rahmenzuweisung „Betriebsausgaben für sozialräumliche Angebote der Jugend- und Familienhilfe"
(Haushaltstitel einfügen) sowie die aus der Zweckzuweisung „Sozialräumliche Hilfen und Angebote" (Titel) geförderten Maßnahmen verfolgen identische fachliche und auf die Strukturen des Hilfesystems bezogene Leitlinien und Ziele. Die aus der Zweckzuweisung Sozialräumliche Hilfen und Angebote geförderten Maßnahmen (Titel) und die mit ihnen verbundenen Maßnahmen zur Steuerung der Hilfen zur Erziehung werden in Kontrakten der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration mit jedem Bezirksamt vereinbart.
3) Stammnutzer/innen nutzen die Angebote mindestens einmal wöchentlich und sind den Fachkräften namentlich bekannt.
4) Kurzberatungen umfassen bis zu 3 Beratungskontakte im Quartal.