Reinhard Joachim Wabnitz
Worum geht es?
Seit Mai 2011 wird auf Seiten einiger SPD-geführter Bundesländer (»A-Länder«) in Positionspapieren betreffend eine Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe) unter dem Stichwort »Wiedergewinnung kommunalpolitischer Handlungsfähigkeit zur Ausgestaltung von Jugendhilfeleistungen « unter anderem vorgeschlagen, den Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung durch eine objektiv-rechtliche Gewährleistungsverpflichtung der Träger der öffentlichen Jugendhilfe zu ersetzen. Was bedeutete dies, was steht dahinter, wer wäre davon betroffen, und wie ist darauf zu reagieren?
Der Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung gemäß § 27 Abs. 1 SGB VIII Bei der Hilfe zur Erziehung nach den §§ 27 ff. SGB VIII handelt es sich um die »klassische« Einzelfallhilfe für Kinder und Jugendliche bei individuellen Erziehungs- und Entwicklungsdefiziten mit einem breiten, differenzierten Leistungsspektrum von der Erziehungsberatung bis zur vollstationären Heimunterbringung. § 27 Abs. 1 SGB VIII lautet seit Inkrafttreten des KJHG/SGB VIII 1990/1991 unverändert wie folgt:
»Ein Personensorgeberechtigter hat bei der
Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen
Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn
eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen
entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist
und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und
notwendig ist.«
§ 27 Abs. 1 hat also lediglich zwei Tatbestandsvoraussetzungen. Zunächst muss es sich um ein Erziehungsdefizit eines einzelnen Kindes oder Jugendlichen handeln, bei dem eine seinem Wohl entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist. Diese Situation muss entweder bereits eingetreten sein oder zumindest konkret drohen. Des Weiteren muss es so sein, dass die im Einzelfall insbesondere nach den §§ 28 bis 35 SGB VIII auszuwählende Hilfeart für die Entwicklung des Kindes »geeignet« und »notwendig« ist. Liegen die genannten beiden Tatbestandsvoraussetzungen des § 27 Abs. 1 SGB VIII vor, haben die/der Personensorgeberechtigte(n) einen eindeutigen und einklagbaren subjektiven Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung. Ein »Haushaltsvorbehalt« oder Ähnliches besteht dabei ausdrücklich nicht.
Objektive Rechtsverpflichtungen und subjektive Rechtsansprüche
Mit Blick auf die eingangs skizzierte Initiative der A-Länder ist nunmehr die Unterscheidung zwischen objektiven Rechtsverpflichtungen der Träger der öffentlichen Jugendhilfe (»muss«, »soll«, »kann«) und subjektiven Rechtsansprüchen junger Menschen oder Personensorgeberechtigter (»hat/haben Anspruch auf«) von grundlegender Bedeutung. Objektive Rechtsverpflichtungen stellen gleichsam ›staatsinterne Verpflichtungen‹ dar. Die Erfüllung derselben ist allein Sache der öffentlichen Träger. Dies gilt auch für Gewährleistungsverpflichtungen (wie etwa gemäß § 79 Abs. 2 SGB VIII).
Demgegenüber eröffnen nur subjektive Rechtsansprüche (»Anspruch«) den Klageweg zu den Gerichten. Nur auf ihrer Grundlage können Kläger ihre berechtigen Anliegen auch gegenüber der öffentlichen Hand durchsetzen. Aufgrund von Rechtsvorschriften, die (lediglich) Träger der öffentlichen Verwaltung zu einem bestimmten Handeln verpflichten, ist dies so nicht der Fall, weil sich der Bürger auf die Einhaltung (rein) objektiv-rechtlicher Verpflichtungen in der Regel nicht berufen und diese deshalb auch nicht »einklagen« kann (dazu umfassend Wabnitz, Rechtsansprüche gegenüber Trägern der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch, Berlin 2005).
Der Staat »richtet« sich deshalb in besonderer Weise auf das Bestehen von Rechtsansprüchen »ein« und schafft in der Regel die infrastrukturellen und finanziellen Voraussetzungen für die Erfüllung derselben. Rechtsansprüche waren deshalb in der Vergangenheit häufig ganz wesentliche »Motoren« für die Fortentwicklung von Leistungsstrukturen, insbesondere im Sozialrecht. Drei Beispiele mögen dies verdeutlichen. Vor einem halben Jahrhundert wurde eine intensive Diskussion um die Neuordnung des Sozialhilferechts geführt. Wesentliches Ergebnis und zugleich wesentlicher sozialer Fortschritt war, dass Hilfebedürftige nicht mehr als »Objekte« staatlicher Fürsorge angesehen wurden, sondern dass ihnen ein Rechtsanspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt eingeräumt wurde (damals § 4 Abs. 1 BSHG). Ein weiteres markantes Beispiel war die Diskussion um die Einführung eines Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz im Kinder- und Jugendhilferecht (§ 24 Abs. 1 SGB VIII) und dessen Realisierung in den 1990er Jahren aufgrund der Schaffung mehrerer 100.000 zusätzlicher Plätze. Aktuell bemühen sich die Träger der öffentlichen Jugendhilfe intensiv darum, die Tagesbetreuungsangebote für Kinder im Alter unter drei Jahren massiv auszubauen – weil diese ab dem 1. August 2013 gemäß § 24 Abs. 2 SGB VIII einen einklagbaren Anspruch darauf haben werden! Man rechnet mit einem Platzbedarf für mindestens 35 Prozent aller betroffenen Kinder. Bis zum Jahre 2002 gab es in den westdeutschen Bundesländern für weniger als drei Prozent aller Kinder Krippenplätze, obwohl die Träger der öffentlichen Jugendhilfe seit dem Jahr 2002 objektiv-rechtlich verpflichtet waren, in bedarfsgerechtem Umfang Plätze vorzuhalten (dazu Wabnitz, Vom KJHG zum Kinder-förderungsgesetz. Die Geschichte des Achten Buches Sozialgesetzbuch von 1991 bis 2008, Berlin 2009, S. 141 ff., 256 ff.).
Zur Entwicklung der Aufgaben und Ausgaben in der Kinder- und Jugendhilfe und zur Situation der öffentlichen Haushalte
Dass Rechtsansprüche erhebliche Kosten nach sich ziehen, verdeutlicht die folgende
Abbildung über die Ausgabenentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe:
Abbildung: Ausgaben nach Leistungsbereichen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland
1995 2000 2005 2009
Angaben absolut (in 1.000 EUR)
Kinder- und Jugendarbeit 1.301.845 1.411.459 1.377.591 1.559.525
Jugendsozialarbeit 184.440 219.067 251.960 388.619
Allgemeine Förderung der Familie 60.135 72.430 79.563 32.317
Unterbringung von Müttern mit Kind(ern) 36.507 75.007 108.464 158.130
Tageseinrichtungen für Kinder 9.796.698 10.035.690 11.542.452 15.883.853
Hilfen zur Erziehung u.Ä. 3.811.116 4.857.443 5.668.067 7.104.488
Mitarbeiterfortbidlung 22.343 17.526 15.041 19.400
Sonstige Ausgaben 934.254 841.381 979.986 1.128.154
Ausgaben für die Jugendhilfeverwaltung 726.979 773.471 668.088 399.378
Ausgaben d. Obersten Bundesjugendbehörde
106.770 112.423 157.626 232.748
Ausgaben insgesamt 17.020.311 18.464.958 20.865.232 26.906.600
Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Einrichtungen und
tätige Personen; verschiedene Jahrgänge; Zusammenstellung und Berechnung Arbeitsstelle
Kinder- und Jugendhilfestatistik
Die mit Abstand größten Ausgabenvolumina und Ausgabensteigerungen sind danach in den Bereichen Tageseinrichtungen für Kinder sowie Hilfen zur Erziehung und verwandter Leistungen zu verzeichnen. Andererseits stagnieren die Ausgaben für den drittgrößten Leistungsbereich der Kinder- und Jugendhilfe, nämlich die Kinder- und Jugendarbeit, wo sie prozentual von früher ca. acht Prozent auf nunmehr unter sechs Prozent der Gesamtausgaben abgesunken sind. Die Ausgaben für alle anderen vielfältigen Leistungsbereiche und Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe stagnieren weiterhin im Marginalbereich. Die verdeutlicht, welch einen großen Unterschied es ausmacht, ob auf Leistungen nach dem SGB VIII einklagbare subjektive Rechtsansprüche bestehen oder lediglich objektiv-rechtliche Verpflichtungen, denen seitens der Träger der öffentlichen Jugendhilfe vielfach kaum nachgekommen wird.
Wer wäre von einer Rechtsänderung betroffen?
Die Herabstufung der Hilfe zur Erziehung von einer Anspruchsleistung zu einer solchen, die nur noch objektiv-rechtlich im Rahmen einer allgemeinen Gewährleistungsverpflichtung zu erbringen wäre, ginge voraussichtlich massiv zulasten derjenigen jungen Menschen und Familien, denen Hilfe zur Erziehung gewährt wird und deren Zahl in den letzten Jahren in der Tat kontinuierlich gestiegen ist, nach der Statistik der Kinder- und Jugendhilfe nämlich mittlerweile jährlich auf über eine Million (vgl. Lotte/Pothmann, Bedarf an Hilfen für Familien ungebrochen – Inanspruchnahme steigt auf über eine Million junge Menschen, in: KomDat – Kommentierte Daten der Kinder- und Jugendhilfe, Heft 2/2010: 2-4). Rechnet man die Erziehungsberatung als die mit Abstand häufigste Hilfeart heraus, dominieren dabei die in den vergangenen 20 Jahren deutlich ausgebauten ambulanten und teilstationären familienunterstützenden und -ergänzenden Leistungen wie etwa Erziehungs-beistandschaft, Sozialpädagogische Familienhilfe und Erziehung in einer Tagesgruppe. Aber auch die Vollzeitpflege ist von 2000 bis 2009 von ca. 58.000 auf ca. 70.000 Hilfen gestiegen, während die mit Abstand »teuerste« Hilfeart, die Heimerziehung, mit ca. 90.000 Hilfen im Wesentlichen unveränderte Fallzahlen aufweist (a. a. O.).
Konsequenzen
In der Konsequenz bedeutete die Abschaffung des Rechtsanspruchs nach § 27 Abs. 1 SGB VIII, dass vor allem junge Menschen und Familien in sozial schwierigen Lebensverhältnissen betroffen wären, denen – abgesehen von der Erziehungsberatung – im Wesentlichen Hilfe zur Erziehung gewährt wird. Es mag in den letzten Jahren erforderlich gewesen sein, Banken mit unzähligen Milliarden Euro zu retten. Es ist gut, dass es für grundsätzlich alle Eltern Elterngeld gibt und der Krippenausbau mit Milliardenaufwand vorangebracht wird. Aber es wäre ein Skandal, ausgerechnet bei der Hilfe zu Erziehung sparen zu wollen – und damit bei denjenigen Bevölkerungsgruppen, die gezielte Einzelfallhilfe benötigen, weil sie die Erziehung ihrer Kinder alleine nicht hinreichend bewerkstelligen können. (Dass die Initiative, von der hier gesprochen wird, ausgerechnet von sozialdemokratischer Seite verfolgt wird, macht die Sache zusätzlich pikant!) Und es wäre ein Widerspruch zu dem von allen relevanten politischen Kräften geforderten Ausbau von Frühen Hilfen und zur ebenfalls unstrittigen Notwendigkeit, zu weiteren Verbesserungen im Bereich des Kinderschutzes zu kommen. Und es wäre auch politisch kurzsichtig, vor dem Hintergrund der absehbaren Überalterung der Bevölkerung in Deutschland ausgerechnet bei denjenigen sparen zu wollen, die wir alle (!) dringend dafür benötigen, in der Zukunft Verantwortung zu übernehmen – nämlich bei den jungen Menschen. Vielmehr müssen zukünftig noch mehr als bislang die poltischen Anstrengungen maßgeblich darauf konzentriert werden, dass möglichst alle jungen Menschen dazu in die Lage versetzt werden – auch durch Hilfe zu Erziehung. Schon in der Vergangenheit galt aus individueller Perspektive: Keiner darf verloren gehen! Noch mehr gilt dies für die Zukunft: Wir können es uns in Deutschland gesamtgesellschaftlich nicht mehr leisten, Potenziale junger Menschen brach liegen zu lassen. Deshalb wird zu Recht Bildung auf der politischen Prioritätenskala nunmehr ganz oben angesiedelt, und genauso muss dies mit Blick auf die sozialpädagogischen Einzelfallhilfen nach dem SGB VIII gelten. Ohne Rechtsanspruch würde es hier jedoch, dies hat der Blick auf das Spektrum aller Leistungen nach dem SGB VIII gezeigt, zu Einbrüchen kommen.
Was ist zu tun?
Zunächst gilt es, über die geplanten Initiativen breit zu informieren. Nach meinem bisherigen Eindruck werden sie im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, weil sie ja aus fachlicher Sicht »so offensichtlich abstrus« erscheinen, noch nicht recht ernst genommen. Dies könnte sich als schwerwiegender Fehler erweisen. Und sodann gilt
es, an allen geeigneten Orten und auf allen Ebenen die Politik auf die möglichen Konsequenzen hinzuweisen und ein breit aufgestelltes »Bündnis für Hilfen zur Erziehung« zu entwickeln – vielleicht nach dem Vorbild der erfolgreichen Initiativen
zur Erhaltung der Bundeskompetenz für das Kinder- und Jugendhilferecht im Vorfeld der Föderalismusreform I 2004/2005. Es ist zu begrüßen, dass die neue praxis hier bereits aktiv geworden ist!
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Verf.: Prof. jur. Dr. phil. Reinhard Joachim Wabnitz, Magister rer. publ.,
Ministerialdirektor a. D.; Hochschule RheinMain, Fachbereich
Sozialwesen, Kurt-Schumacher-Ring 18, 65197 Wiesbaden
E-Mail: reinhard.wabnitz@hs-rmde
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