Wolfgang Hammer
Neue Praxis oder Paradigmenwechsel?
Zur Notwendigkeit einer Weiterentwicklung der Hilfen zur
Erziehung und des Kinderschutzes
Gesellschaftliche Ausgangslagen der Hilfen zur Erziehung
und des Kinderschutzes in Deutschland
Die erzieherische Überforderung von Familien, meist einhergehend mit Armutskreisläufen,
in denen die betreffenden Familien »stecken«, und die daraus
resultierende Bildungsbenachteiligung hat deutlich zugenommen. Nach Angaben
der Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik wurden im Jahr
2007 in Deutschland für ca. 810.000 Kinder und Jugendliche direkt oder indirekt
Hilfen zur Erziehung geleistet.
Die Zahl der jungen Menschen ohne Schulabschluss liegt in einigen Großstädten
zum Teil bei 15 Prozent, in Förderschulen bundesweit bei sechs Prozent und im
sogenannten Überganssystem landen 34 Prozent aller Schulabsolventen (Bildungsbericht
2010).
Wenn dies aber so ist, dann muss die Zielrichtung des gesamten auf Erziehungsunterstützung
ausgerichteten Hilfesystems sich aus der Fokussierung auf individuelle
Versagensbetrachtung und damit auch aus der Fokussierung auf Einzelhilfen
lösen; sie muss stattdessen vorrangig auf Angebote im sozialen Nahraum setzen,
die infrastrukturell insbesondere in sozial belasteten Stadtteilen niedrigschwellige
Zugänge zur Alltagsentlastung und Kompetenzstärkung von Familien zur Verfügung
stellen.
Es gibt große Übereinstimmungen in den Problemlagen der Familien in spezifischen
Schlüsselsituationen der Erziehung, angefangen bei der Grundversorgung von
Säuglingen und Kleinkindern, über Bindungsstörungen, Schulprobleme und bis hin
zu Delinquenz und damit einhergehenden spezifischen Belastungserscheinungen
(siehe Ki GGS -Studie, Ravens-Sieberer et al., 2007) wie psychische Erkrankungen,
Suchtabhängigkeit.
Dies zeigt klar auf, dass bei einer Belastungsquote allein schon bei den förmlichen
Erziehungshilfen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz in 2007 von fast
fünf Prozent aller Kinder und Jugendlichen mit steigender Tendenz – gegenüber
ein Prozent bei der Verabschiedung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes im Jahr
1990 – gesellschaftliche Verursachungen wesentlicher sind als individuell erklärbares
Versagen. Die sogenannte Leistungsdichte zeigt zum Teil eine HzE-Quote
in belasteten Stadtteilen bei zehn Prozent aller Kinder und Jugendlichen.
Für vergleichbare Lebenslagen, die zudem noch durch Isolierung und mangelnde
Unterstützung in Alltagsfragen durch soziale Netzwerke gekennzeichnet sind, muss
es im sozialen Nahraum Unterstützungsangebote geben, die sowohl entlastend
im Hinblick auf erzieherische Überforderungen wirken als auch den Schutz von
Kindern und Jugendlichen zum Ziel haben. Dies setzt voraus, dass eine leistungs-fähige, leicht zugängliche Infrastruktur mit dem System der Einzelhilfen wirksam
kommunal verknüpft wird.
Gerade die Isolierung in der Lebenssituation versperrt Zugänge, auch wenn
das Hilfesystem noch so gut entwickelt ist, und reduziert zugleich die Chancen
individuell ausgerichteter Hilfen. Denn wenn zu wenig Erziehungsverantwortung
übernommen wird, so ist dies gerade bei Menschen aus sozial belasteten Lebenslagen
nicht primär als Folge eines moralischen oder bildungsmäßigen Defizits zu
verstehen, sondern durch den mangelnden Zugang zu Alltagskompetenzen und
Alltagsentlastung und den Mangel an Perspektiven begründet. Letzteres kann nur
durch den Kontakt mit anderen Menschen und regelhaftes Nutzen institutioneller
Hilfen erreicht werden.
Die bisherige Fokussierung auf Einzelhilfen in den Hilfen zur Erziehung, die
bundesweit in den letzten Jahren parallel zu den Fällen von Inobhutnahme und
Sorgerechtsentzug drastisch ansteigen, ist bereits jetzt zum Teil eine Fehlallokation
bzw. im Hinblick auf die mit den Hilfen angestrebten Ziele des § 1 SGB VIII
dysfunktional.
Diese Fehlallokation bezieht sich weniger auf Ressourcen, d. h. den Einsatz von
Geld und Menschen, sondern besteht vor allem im Hinblick auf das Ziel, die Angst
vor Versagen und die Hoffnungslosigkeit von Eltern in spezifischen Situationen
aufzulösen und deren Selbstbewusstsein und Handlungsfähigkeit zu stärken und
einen Beitrag zur Verwirklichung des Rechtes junger Menschen zur Entwicklung
einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu leisten.
Es fehlen die Erfahrung der Gemeinsamkeit mit anderen Betroffenen und die
daraus erwachsende Kraft und Bereitschaft, mehr Erziehungsverantwortung zu
übernehmen. Häufig geht es weniger um Pädagogik, sondern vielmehr um die
Nutzung von Infrastruktur, Alltagsentlastung, den Erwerb von Alltagskompetenzen,
die Aufhebung von Isolierung und die Schaffung von nachbarschaftlichen und
professionellen Netzwerken. Auch beim pädagogischen Hilfebedarf geht es häufig
nicht um das Kontingent an Besprechungsstunden und die Face-to-face-Kontakte zu
Familien, sondern um gezielte Hilfen für Eltern und für Kinder und Jugendliche.
Bei der Passgenauigkeit von Einzelhilfen in Verbindung mit der Handlungskompetenz
im infrastrukturellen Feld geht es um die Geeignetheit von Hilfen, nicht
um die Menge des Hilfeumfangs.
Ein Hilfesystem, das zu stark auf Einzelhilfen setzt, ist nicht nur teuer, sondern
wirkt auch entmutigend und entwürdigend. Dies ist keine Kritik an den Leistungen
der Erziehungshilfen, sondern eine Kritik der inflationären Nutzung dieser Hilfen
durch die Kommunen ohne Verknüpfung mit leistungsfähigen infrastrukturellen
Angeboten. Einzelhilfen sind nur dann gesellschaftspolitisch und humanitär
zielführend, wenn sie als zusätzliches Hilfesystem auf einem gut entwickelten,
leicht zugänglichen System der alltagsentlastenden Infrastruktur aufsetzen. Das
gilt insbesondere für die ca. drei Viertel aller schulpflichtigen Minderjährigen in
den Hilfen zur Erziehung, bei denen eine Verknüpfung mit der für sie zum Teil
belastenden Schulwirklichkeit unerlässlich ist.
Die stärkere Einbeziehung des engeren sozialen Umfeldes, wie in § 27 Abs. 2 Satz 2
SGB VIII als Soll-Norm formuliert ist, müsste zum zentralen Kriterium für die Geeignetheit
des Hilfesystems werden. Hier liegt auch die Chance einer Verknüpfung
der Finanzierungsinstrumente von Einzelhilfen und Infrastruktur.
Gleiches gilt auch für den relativ neuen § 36a, der nicht nur der Selbstbeschaffung
einen Riegel vorschieben sollte, sondern in Absatz 2 dem Öffentlichen Jugendhilfeträger die Möglichkeit bietet, die niedrigschwellige Inanspruchnahme von ambulanten
Hilfen zuzulassen und mit den Leistungsanbietern hierzu Vereinbarungen
zu treffen. Auf dieser Rechtsgrundlage könnten die Kommunen einen Großteil der
Angebote und Projekte der Frühen Hilfen in eine auf Dauer angelegte Finanzierung
überführen und damit zugleich Infrastruktur in belasteten Stadtteilen schaffen.
Die konservative rechtliche Interpretation des Kinder- und Jugendhilferechts
aus dem Jahr 1990 begünstigt jedoch eine Einzelfallorientierung, weil die Hilfen
zur Erziehung als individuell einklagbares Recht ausgestaltet sind, während die
Schaffung alltagsentlastender präventiver Infrastrukturen und Angebote als in
Bezug auf Umfang und Qualität nicht festgelegter Gestaltungsauftrag formuliert
wurde, der haushaltspolitisch oft als freiwillige Leistung »übersetzt« wird (Münder
et al., 2009).
Unter solchen Entwicklungen hatten in den letzten Jahren sowohl die Familienförderung
als auch die Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit phasenweise zu leiden,
während die Ausgaben für die Hilfen zur Erziehung ständig angestiegen sind.
Der Anstieg im Bereich »Hilfen zur Erziehung« ist ein Reflex des Hilfesystems
auf eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung und begründet sich daher nicht nur
fachlich. Er erfolgt in dem System, in dem die besten Voraussetzungen bestehen,
die zusätzlichen Mittel für eine Ausweitung der Hilfeangebote realisieren zu
können.
Zur Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels in den Hilfen
zur Erziehung
Anders als beim Ausbau der Kindertagesbetreuung hat bei den Hilfen zur Erziehung
die Schaffung von Rechtsansprüchen allerdings nicht zu einer zukunftsorientierten
Stärkung und Unterstützung der Infrastruktur bzw. zu ihrem Ausbau
geführt, die einer Bildungsbenachteiligung entgegenwirken.
Die häufig sehr spezialisierten Angebote im Bereich »Hilfen zur Erziehung«
bieten bundesweit häufig Hilfen nicht im Verbund mit anderen infrastrukturellen
Leistungen der Frühen Hilfen, der Familienförderung, der Jugendarbeit, der Kindertagesbetreuung
oder Schulen an.
Auf ihr hochspezialisiertes Hilfeangebot wird von den Jugendämtern zunehmend
mehr zurückgegriffen, um sicherzustellen, dass überforderte Eltern und gefährdete
Kinder schnell eine Hilfe bekommen, bei der die Jugendämter zumindest theoretisch
die Möglichkeit haben, sie regelhaft zu überprüfen. Dies dient zugleich der
Absicherung in befürchteten Strafverfahren.
Nur wenige Städte in Deutschland – wie beispielsweise Hamburg – haben die
Dynamik dieses Kreislaufs auch systematisch haushalterisch durchbrochen und
haben parallel zum Ausbau der Hilfen zur Erziehung auch die Infrastruktur im
Bereich der unterstützenden Angebote im sozialen Umfeld etwa durch Frühe Hilfen,
Kinder- und Familienhilfezentren, Sozialräumliche Angebote flächendeckend
ausgebaut, gerade in sozial belasteten Stadtteilen.
Bisher hat jedoch keine Stadt in Deutschland einen grundsätzlichen Systemwechsel
eingeleitet, weil die Rechtssystematik des Kinder- und Jungendhilferechtes
traditionell interpretiert wird.
Deshalb gilt es flächendeckend einen Paradigmenwechsel einzuleiten, der unter
der Leitlinie steht: Erzieherische Unterstützung wird regelhaft durch eine wohnortnahe, alltagsentlastende unterstützende Infrastruktur geleistet. Familien sollen
Unterstützungsangebote erhalten, die ihre Alltags- und Erziehungskompetenz
nachhaltig stärken.
Der Rechtsanspruch auf eine geeignete Hilfe zur Erziehung wird im Regelfall am
wirkungsvollsten – und mit der stärkeren Beachtung der Menschenwürde – durch
entsprechende Angebote der Infrastruktur erfüllt, die eine große Einzelwirkung
entfalten. Darauf aufsetzend sind auch die Erziehungshilfen gesellschaftspolitisch
und fachlich sinnvoll.
Nur so wird es gelingen, das Hilfs- und Unterstützungsangebot für überforderte
Familien in Deutschland und die Ausrichtung des gesamten Kinder- und Jugendhilfesystem
zukunftsfähig zu machen und in das nächste Jahrzehnt zu führen.
Politische und mediale Ausgangslage der Hilfen zur
Erziehung und des Kinderschutzes
Seit 2004 werden Kindesvernachlässigungen um ein Vielfaches aufmerksamer von
den Medien und der Politik wahrgenommen als zuvor. Dies zeigt insbesondere der
geschärfte Blick für die Zahl der infolge von Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung
gestorbenen Kinder. Diese Zahl war auch in den 1970er und 80er
Jahren ähnlich hoch wie in der zweiten Hälfte des letzten Jahrzehnts, die Medien
und die Politik haben dieses Phänomen jedoch über viele Jahrzehnte nur peripher
wahrgenommen. Seit 2004 sind einige Namen der Opfer von Kindesvernachlässigung
mit Todesfolge bekannter als die von vielen Bundesministern, Schauspielern
und Sportlern. Tote Kinder wie Jessica, Kevin und Lea-Sophie schrieben so in
Deutschland Kinderschutzgeschichte.
Das Anwachsen der öffentlichen Aufmerksamkeit hat gravierende Auswirkungen
auf die Entwicklung des gesamten Hilfesystems, insbesondere der Hilfen zur
Erziehung und des Kinderschutzes gehabt. Zum einen hat die große Aufmerksamkeit
die öffentliche Wahrnehmung erhöht, die Bereitschaft von Institutionen und
der Bevölkerung gesteigert, genauer auf die Notlagen von Kindern zu schauen
und gegebenenfalls Meldungen an die Jugendämter zu geben. Die von der Politik
zur Verfügung gestellten Mittel wurden aufgestockt, um die seit Jahren zum Teil
problematische Personalsituation in den Sozialen Diensten der Jugendämter zu
verbessern. Damit, dass der Kinderschutz mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit
rückt, sind zugleich starke Einflüsse auf das fachliche Handeln verbunden.
Insbesondere wird der Kontrollaspekt höher bewertet, nicht nur aus fachlichen
Gründen, sondern auch weil die Tendenz zugenommen hat, insbesondere bei
Todesfällen auch gegen sozialpädagogische Fachkräfte Freier Träger oder Jugendämter
zu ermitteln.
Auch der Gesetzgeber hat reagiert: mit einer Konkretisierung der Schutzvorschriften
in § 8a des Kinder- und Jugendhilfegesetzes und mit dem Versuch, ein
Bundeskinderschutzgesetz zu verabschieden, der zwar in der Wahlkampfphase der
letzten Legislaturperiode gescheitert ist, aber im neuen Entwurf der Bundesregierung
und nach Kenntnis der Stellungnahme des Bundesrates und der Fachorganisationen
gute Chancen hat ab 1.1.2012 in Kraft zu treten. Seit der Regelung im
§ 8a hat sich das Meldeverhalten weniger von Nachbarn aber von Institutionen wieinsbesondere Polizei, Schulen und Kindergärten erheblich verändert. Die Jugendämter
reagieren auf diese Menge von Meldungen häufig aus Sichergründen mit
der Verfügung von Erziehungshilfen. Diese ist ein zentraler Faktor des Anstiegs
der Hilfen seit 2005.
Stärkung der Kinderrechte im Hilfesystem
Kein anderer Jugendhilfebereich ist so stark durch Spannungsverhältnisse geprägt
wie der Kinderschutz. Dies ist kein Zufall. Die Umsetzung des staatlichen Wächteramts
als Auswirkung von Artikel 6 Grundgesetz, nach dem die staatliche Gemeinschaft
darüber wacht, dass die Eltern die ihnen zuvörderst obliegende Pflicht
der Erziehung ihrer Kinder wahrnehmen, gehört zu den schwersten Aufgaben in
pädagogischen Handlungsfeldern. Deswegen sollen im Folgenden die zentralen
Spannungsverhältnisse aufgezeigt werden, mit dem Ziel, einen Orientierungsrahmen
für fachliches Handeln zu setzen. Der Anspruch muss darin bestehen, diese
Spannungsverhältnisse zu gestalten, und nicht darin, eine Entscheidung für oder
gegen einen der Spannungspole zu treffen oder die Spannung aufzulösen.
Das Spannungsverhältnis zwischen Elternrecht einerseits und Kindesrecht bzw.
Kindeswohl andererseits ist verfassungsrechtlich unauflösbar in Artikel 6 des
Grundgesetzes vorgegeben. Nähert man sich bei der Suche nach einer Orientierung
dem Thema, so empfiehlt es sich, das Spannungsverhältnis aus Sicht eines Kindes
zu betrachten und »aufzuhellen«: Jedes Kind hat das Recht und erwartet auch,
dass seine leiblichen Eltern es liebevoll umsorgen und ihm die nötige Hilfestellung
beim Aufwachsen geben. Dieses besondere Verhältnis zwischen Eltern und Kindern
muss auch aus Sicht der Kinder, nicht nur aus Sicht der Eltern, jede mögliche
Unterstützung der staatlichen Gemeinschaft erfahren. Das heißt, jedes Kind muss
darauf vertrauen können, dass die staatliche Gemeinschaft – und insbesondere die
Kinder- und Jugendhilfe – dazu beiträgt, überforderte Eltern darin zu stärken, den
berechtigten Ansprüchen ihrer Kinder gerecht zu werden.
Gleichzeitig muss jedes Kind aber sicher sein, dass es nicht alleine bleibt, wenn
Eltern dieser Anforderung trotz Unterstützung nicht gewachsen sind und ihr Kind
aufgrund mangelnder Bereitschaft oder Fähigkeit gefährden. In diesem Moment
braucht jedes Kind den starken Staat, der als staatliche Gemeinschaft sein Wächteramt
ausübt und dem Kind dabei hilft, sein Leben menschenwürdig führen zu
können. Eine Stärkung der Kinderrechte im Alltag und in der rechtlichen Ausgestaltung
ist damit der zentrale Orientierungsrahmen für das Spannungsverhältnis
von Elternrecht und Kindeswohl. Handlungsbedarf besteht hier u. a. im einfachen
Recht, insbesondere darin, dass im Kinder- und Jugendhilferecht die Hilfen zur
Erziehung als individueller Rechtsanspruch nur den Eltern zur Verfügung stehen,
nicht aber den Kindern, die nicht einmal ein eigenes Antragsrecht haben. Lediglich
die Inobhutnahme ist das bescheidene Zugeständnis des riesigen Leistungskataloges
des SGB VIII, der eine unmittelbare Jugendhilfeleistung ermöglicht, die durch
Minderjährige eingefordert werden kann.
Ich teile die Einschätzung vieler Fachorganisationen, dass die Erweiterung des
Grundgesetzes um eigenständige Kinderrechte Folgen für das einfache Recht hätte.
Denkbar wäre eine Orientierung an Artikel 24 der EU-Grundrechts-Charta, in der
das Recht des Kindes nicht nur gegenüber seinen Eltern, sondern vor allem auch
gegenüber der staatlichen Gemeinschaft fixiert wurde. Da Deutschland es geschafft hat, dieser Charta mit breiter Mehrheit im Bundestag und Bundesrat zuzustimmen,
ist es für mich nur noch schwer nachvollziehbar, wieso es nicht möglich ist, eine
analoge Erweiterung des Grundgesetzes für die Kinderrechte vorzunehmen.
Abschließend möchte ich jedoch darauf hinweisen, dass ein wirkungsvoller Kinderschutz
und das Wahrnehmen von Kinderrechten nicht etwa davon abhängig
gemacht werden können, dass eine solche Grundgesetzänderung eintritt. Sie ist
auch nicht die zwingende Voraussetzung für eine Verbesserung der Rechtssituation
der Kinder. Wer verantwortungsvoll für Kinder handeln will, kann dies heute schon
tun – dies gilt sowohl für Jugendämter wie für Familiengerichte als dem Teil der
staatlichen Gemeinschaft, dem das Grundgesetz den Auftrag gegeben hat, über
das Kindeswohl zu wachen.
Die Kinder und Jugendlichen in Deutschland brauchen eine kommunal gut
ausgestattete Infrastruktur von Hilfen – beginnend mit der Schwangerschaft und
der Geburt – als Regelangebot von Jugendhilfe und Gesundheitshilfe. Genauso
muss die Zusammenarbeit von Schulen und Jugendhilfe zur Regel werden. Darauf
aufsetzend sind die Einzelhilfen notwendig und sinnvoll, mit einem höheren
Maß an individueller Diagnostik und individueller Hilfeplanung, weil bei aller
Gemeinsamkeit von Lebenslagen und Problemen in bestimmten Konstellationen
individuelle Hilfeangebote genauso zwingend sind wie individuelle Förderangebote
im Bildungsprozess.
Das Spannungsverhältnis zwischen Prävention und
Intervention
Eine Intervention bedeutet, meist in Form der Inobhutnahme, das unmittelbare
Handeln bei einer drohenden Kindeswohlgefährdung, um Leib und Leben eines
Kindes zu schützen. Deshalb werden eine Inobhutnahme und Anrufung der Familiengerichte
immer dann unverzichtbar sein, wenn es kurzfristig oder auf Dauer
nicht gelingt, das notwendige Mitwirken von Eltern zu erreichen, bzw. Zeit benötigt
wird, um Eltern wieder in die Lage zu versetzen, ihre Erziehungsaufgabe zu
erfüllen. Eine solche Intervention begründet sich sowohl kinderrechtlich als auch
verfassungsrechtlich aus Artikel 6 Grundgesetz, gesellschaftspolitisch legitimiert sie
sich aber nur, wenn zuvor die Möglichkeit bestanden hat, präventive Hilfeangebote
zu vermitteln, und diese durch die Eltern nicht angenommen werden konnten.
Das Spannungsverhältnis zwischen Hilfe und Kontrolle ist in der Geschichte
häufig dazu benutzt worden, um ausschließlich auf angebotsorientierte Hilfen zu
setzen und damit den Fachkräften der Jugendhilfe das unerfreuliche Thema der
Kontrolle zu ersparen. Diese Aufspaltung von Hilfe und Kontrolle entspricht der
Aufteilung des Personals aus schlechten Krimis in good guys und bad guys. Ein
professionelles Hilfeverständnis macht Kontrolle zu einem professionellen Instrument
der systematischen Hilfe für einen Menschen, so wie das beispielsweise
in der Medizin völlig unumstritten ist. Eine solche Kontrolle ist kein isoliertes,
auf grundsätzlichem Misstrauen basierendes Instrument, sondern ein integraler
Bestandteil von Fachlichkeit, so wie Schone (2008) dies formuliert hat. Vor diesem
Hintergrund ist die Gemeinsamkeit von Hilfe und Kontrolle auch ein Aspekt
professioneller Rollenklarheit, die im Kontakt zwischen Hilfesystem und Familie
– und zwar unabhängig davon, ob dieser Kontakt über einen Freien Träger oder
das Jugendamt erfolgt – unabdingbar ist.
Nicht zu begründen ist jedoch die Entwicklung von sogenannten Frühwarnsystemen,
die über die Auflistung von Merkmalen infrastruktureller und individueller
Art hinausgehen und Ansätze von Rasterfahndungen entwickeln, wie sie in einigen
Modellen von Frühwarnsystemen in Deutschland vorgesehen sind. Jede Form systematischer
Überprüfung von Eltern als grundsätzlich Verdächtige ist eine fachlich
nicht legitimierte Datensammlung. Jede verdeckte Datensammlung im Rahmen
eines Hausbesuches, der angeblich nur dem Erstkontakt dient, ist fachlich unredlich
und im Hinblick auf den Kinderschutz entwürdigend und dysfunktional.
Eckpunkte zur Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung
und des Kinderschutzes in Deutschland
Hilfen zur Erziehung und Kinderschutz müssen Teil einer Gesamtpolitik für Kinder
werden. Eine fachlich verantwortliche Weiterentwicklung des Hilfesystems der
Jugendhilfe ist nur im Gesamtzusammenhang der Weiterentwicklung des gesamten
auf Kinder bezogenen Hilfe- und Schutzsystems nachhaltig zu gestalten.
Veränderte Lebenslagen machen veränderte Hilfe- und Schutzsysteme erforderlich:
Die Lebenslagen von Familien haben sich gegenüber der gesellschaftlichen
Ausgangslage bei der Verabschiedung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes im
Jahr 1990 erheblich verändert. Erziehungsüberforderungen und Kindeswohlgefährdungen
sind Lebens- und Risikolagen, die durch Isolierung, Überforderung,
mangelnde Unterstützung im Alltag und große persönliche Verunsicherung im Erziehungsverhalten
geprägt sind. Dies bedeutet nicht nur, sich auf diese Lebenslagen
präventiv und unterstützend auszurichten, sondern auch, dass wir mehr brauchen
als das Instrumentarium der klassischen Einzelhilfen.
Das Zusammenwirken von Infrastruktur und Einzelhilfen ist unabdingbar: Ein
zeitgemäßes Hilfeangebot macht es dringend erforderlich, dass gerade in sozial
belasteten Stadtteilen das Zusammenwirken von entlastender Infrastruktur einerseits
und den notwendigen Einzelhilfen andererseits neu konzipiert wird.
Nunmehr geht es darum, die Verknüpfung dieser Infrastruktur mit den klassischen
Instrumentarien der Einzelhilfen – insbesondere bei der Ausgestaltung ambulanter
Erziehungshilfen für Familien – so auszurichten, dass die wesentlichen Ausgangslagen
für erzieherische Überforderung und Kindeswohlgefährdung in den Fokus
genommen werden.
Eine Überwindung der Isolierung und die Nutzung vorhandener infrastruktureller
Angebote sowie eine stärkere Fokussierung vor allem auf die alltagsstützenden –
und weniger auf die pädagogischen – Kompetenzen bei der Grundversorgung von
Säuglingen und Kleinkindern oder bei der schulbegleitenden Stützung von Familien
setzen eine verbindliche wohnortnahe Ausrichtung alle sozialpädagogischen
Einzelhilfen voraus. Eine auswärtige stationäre Unterbringung wegen mangelder
Beschulbarkeit in der Herkunftsgemeinde ist keine geeignete Hilfe sondern Ausdruck
eines Systemversagens mit negativen Auswirkungen auf die Kinder und
Jugendlichen und mit hohen Kosten, die keinem nützen.
Um diesen Paradigmenwechsel möglich zu machen, bedarf es auch einer Neuausrichtung
der Sozialen Dienste der Jugendämter.
Die Sozialen Dienste müssen zur zentralen Vermittlungsinstanz aller städtischen
Leistungen werden: Die Rolle der Sozialen Dienste muss angesichts der großen
Zahl der gesellschaftlichen Problemsituationen mit überforderten Familien darinbestehen, Einzelhilfen und die soziale Infrastruktur zu verknüpfen. Vor diesem
Hintergrund ist die Weiterentwicklung der Sozialen Dienste in Deutschland mit
einer starken professionellen Ausprägung der Funktionsbereiche Eingangsmanagement,
Netzwerkmanagement und Fallmanagement ebenso die unabdingbare
Voraussetzung für die Weiterentwicklung eines wirkungsvollen präventiven Jugendhilfesystems
wie für die Weiterentwicklung eines im Einzelfall wirksamen
Kinderschutzes.
Der dazu notwendige Prozess der Neuausrichtung der Sozialen Dienste setzt
auf die Stärkung der professionellen Kompetenz und auf die Unterstützung des
pädagogischen Handlungsspielraums der Fachkräfte, um vielfältige Angebote im
Bereich der Hilfen zur Erziehung und der übrigen Angebote von Jugendhilfe,
Gesundheitswesen und Schule nutzbringend sowohl infrastrukturell als auch im
Einzelfall einsetzen zu können.
Diese Neuausrichtung der Sozialen Dienste bedeutet zugleich auch den Abschied
von einem Berufsbild, in dem die soziale Betreuung einzelner Familien im Zentrum
stand. Diese Entwicklung ist jedoch nicht – wie manche Kritiker befürchten – eine
Veränderung des Berufsbildes hin zu einer Technokratisierung der Steuerung von
Hilfeprozessen, sie bedeutet vielmehr die Entlastung von Bürokratie und die Festschreibung
fachlicher Verfahrensstandards, die sich in den fachlich erwünschten
Prozessabläufen widerspiegeln.
Der fachliche Freiheitsgrad des professionellen Handelns wird dadurch erhöht
und nicht verringert. Die Sozialen Dienste werden durch diese Neuausrichtung zur
zentralen gesellschaftlichen Vermittlungsinstanz insbesondere für sozial benachteiligte
Familien, um für diese das gesamte Hilfe- und Unterstützungspotenzial der
staatlichen Gemeinschaft zu erschließen.
Die regelhafte Kooperation zwischen Jugendhilfe, Gesundheitshilfe und dem
Schulwesen wird zum Qualitätsmerkmal eines ganzheitlichen Hilfesystems, ja sie
ist dessen unabdingbare Voraussetzung. Gerade der Ausbau der Frühen Hilfen
und die Sicherung der Grundversorgung von Säuglingen und Kleinkindern in erzieherisch
überforderten Familien zeigen, welch große Bedeutung die regelhafte
Verknüpfung zwischen Gesundheitshilfe und Jugendhilfe beim Kinderschutz hat.
Weder bei der infrastrukturellen Ausgestaltung der Hilfen noch in jedem Einzelfall
kann eine ausschließlich aus pädagogischer oder gesundheitlicher Sicht orientierte
Hilfe wirksam werden. Wirksam ist nur die Verknüpfung beider Systeme.
Im Hinblick auf die Schule ergibt sich bei zunehmendem Ausbau des Ganztagsunterrichts
für alle schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen zudem die Notwendigkeit,
dass das Gesamtangebot an ambulanten Erziehungshilfen sich auch
auf diese neuen Zeitstrukturen einrichten muss. Gleichzeitig muss von beiden
Systemen früher auf Störungen im Entwicklungsprozess reagiert werden. Das
regelhafte Zusammenwirken von Schulen – gerade im Einzugsbereich sozial belasteter
Stadtteile – und Jugendhilfe, sowohl auf infrastruktureller Ebene wie auch
im Einzelfall, muss damit zu einem Qualitätsmerkmal der Kooperation zwischen
Schule und Jugendhilfe werden.
Dies dient nicht nur der Überwindung erzieherischer Unsicherheiten, sondern
vor allem auch dem Ziel einer höheren Chancengerechtigkeit und dem Ausgleich
sozialer Bildungsgefälle.
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Literatur
Münder, J., Meysen, T., Trenczek, T. (Hrsg.), 2009: Frankfurter
Kommentar zum SGB VIII: Kinder- und Jugendhilfe.
6., vollst. überarb. Aufl., Weinheim
Ravens-Sieberer, U./Wille, N. et al., 2007: Psychische
Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland.
Ergebnisse aus der BELLA -Studie im Kinder- und
Jugendgesundheitssurvey (Ki GGS ). Bundesgesundheitsblatt
– Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz,
50 (5-6): 871-878
Schone, R., 2008: Kontrolle als Element von Fachlichkeit
in den sozialpädagogischen Diensten der Kinder- und
Jugendhilfe, Berlin
Wiesner, J., 2006: SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe.
3. Aufl., München
Verf.: Dr. Wolfgang Hammer, Abteilungsleiter FS 2 Kinder- und Jugendhilfe,
Freie und Hansestadt Hamburg, Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und
Integration, Amt für Familie, Hamburger Str. 37, 22083 Hamburg
E-Mail: wolfgang.hammer@basfi.hamburg.de
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