Wirkungsvolle Jugendhilfe Hamburg

Mittwoch, 26. Oktober 2011

Geschäftsstelle des VKJH e.V. zu „Hilfen zur Erziehung – Konzeptionelle Vorschläge zur
Weiterentwicklung und Steuerung“ von der BASFI am 24.08.2011
Hamburg, September 2011
Anmerkungen zu den „Konzeptionellen Vorschlägen zu Weiterentwicklung und Steuerung“ aus der Fachbehörde BASFI; Papier vom 24. August 2011
Nach längerer und teilweise sehr kontroverser Fachdiskussion um die Weiterentwicklung der Jugendhilfelandschaft in Hamburg hat die Fachbehörde am 24. August ein Papier mit „konzeptionellen Vorschlägen zur Steuerung“ vorgelegt.
Das Papier nimmt mit der Forderung nach (auch) elternunabhängigen Unterstützungsangeboten für Kinder und Jugendliche, der systematischen Vermeidung von Ausgrenzung bzw. Reintegration (auch bezogen auf Regelinstitutionen), dem Erhalt des Umfelds und der Vermeidung von stationärer und insbesondere auswärtiger Unterbringung einige der wesentlichen Positionen einer sozialräumlichen Umgestaltung der Jugendhilfe auf, die in den letzten Jahren fachöffentlich diskutiert worden sind (vgl. dazu letztes FORUM: „Weitergehen“ – Sozialräumliche Alternativen“).
Auf der anderen Seite werden in diesem Papier zur künftigen Ausrichtung der Jugendhilfe, insbesondere bezogen auf die erzieherischen Hilfen, aber auch Ziele formuliert, die von dem Stand der Fachdiskussion – also von einer AdressatInnen orientierten und auf Vielfalt basierenden Angebotsstruktur, von Mehrdimensionalität der Unterstützungsebenen und von einem Methoden integrierenden Blick auf die Lebenswirklichkeiten – wenig berührt zu sein scheinen.
Duktus, Stil und Sprache vermitteln stellenweise das Bild einer Jugendhilfe, die sich weniger als gelingende Koproduktion zwischen Träger, Jugendhilfeverwaltung und Familie (Minderjährige und ihre Eltern) im sozialen Raum versteht, denn wieder als Maßnahme, welche sich, fürsorglich und streng intervenierend, gegen „unfähige oder unwillige“ Familien richten muss. Probleme in den Familien werden weniger vor dem Hintergrund städtischer Lebenslagen – Armut, soziale und Bildungssegregation –, als erneut im Kontext elterlichen Versagens beschrieben. Das scheint uns, gegenüber dem Stand der Diskussion, ein Schritt zurück zu sein, geht es bei der sozialräumlichen Umgestaltung doch im Kern darum, eine neue und zu den Menschen passende Vielfalt an sozialräumlichen Hilfen und Angeboten zu schaffen.
Im Einzelnen möchten wir als VKJH, in der Hoffnung auf eine positive und offene weitere Diskussion, wie sie in Hamburg zu diesem Thema seit längerem zwischen Trägern, Politik und Verwaltung geführt wird, folgende vier Punkte anmerken:
1. Anspruch auf passende Hilfe nach „Bedarf im Einzelfall“; das Vorhaben, Jugendhilfe effektiver, passender und auch effizienter zu machen bedeutet nicht und erfordert auch nicht, sich vom gesetzlichen und fachlichen Auftrag, Art und Umfang der Hilfe dem „Bedarf im Einzelfall“ (KJHG § 27) entsprechend zu gestalten, zu verabschieden. Im Gegenteil. Erfahrungen mit Ressourcen nutzenden, kreativ gestalteten, die Familien konsequent einbeziehenden, genau passenden „Maßanzügen“ im sozialräumlichen und kooperativen Kontext zeigen, dass diese nicht nur wirkungsvoller und gewollter, sondern auch effizienter arbeiten können, als standardisierte Maßnahmen. Die Angebote sollten zur Situation und zum Menschen passen (oder passend gemacht werden), nicht umgekehrt.
2. Einzelhilfen im Kontext der Lebenswelten und der Potenziale im sozialen Raum; die Eignung der SPFH als (eine) Umsetzungsform der HzE in ihrer – zu Recht kritisierten – bisherigen Rolle als Pauschalantwort auf familiäre Probleme zu überprüfen bedeutet nicht, diese als Methode zukünftig grundsätzlich auszuschließen. 1Im Gegenteil. Die intensive – auch begleitende, auch am Lebensort aufsuchende, auch auf längerfristige Prozesse zielende Arbeit mit und in Familien wird im Einzelfall weiterhin sinnvoll und notwendig sein, auch um Eingriffe in die grundrechtlich geschützte familiäre Souveränität zu verhindern. Eine solche Familien unterstützende Arbeit darf, wenn sie erfolgreich sein soll, allerdings nicht isoliert bleiben, sondern muss grundsätzlich im Kontext weiterer Angebote, Einrichtungen und Potenziale im sozialen Raum und im persönlichen Umfeld der Einzelnen umgesetzt werden, unabhängig davon, ob diese Arbeit im Rahmen der SHA oder der HzE durchgeführt wird.
3. Das viel zitierte „Dorf“ ist mehr als eine staatliche Institution; die systematische und geregelte Bezugnahme der Jugend- und Familienhilfe (auch) auf die Regelsysteme, in denen junge Menschen sich einen großen Teil ihrer Zeit aufhalten und deren Erfolge wesentliche Relevanz für ihre persönlichen Chancen und Wege haben, darf nicht bedeuten, die Familie als (eine) wesentliche Sozialisationsinstanz zukünftig aus der Leistungserbringung weitgehend auszusparen oder das Verhältnis zur Familie auf Kontrolle und „Pflichten-Durchsetzung“ zu reduzieren. Im Gegenteil. Ohne eine stärkende, ermutigende und aktivierende Zusammenarbeit mit den Familien sind die Erfolgsaussichten für intendierte Prozesse (in der Schule, der Kita, in Gruppenangeboten etc.) sehr begrenzt (vgl. dazu auch Dr. Ursel Becher im aktuellen FORUM: „Hamburg – eine gespaltene Stadt. Strukturelle Gewalt als Hindernis, Möglichkeiten zu entfalten“).2 „Für die Erziehung eines Kinder braucht man das ganze Dorf“, zitiert Thomas Böwer in seinem „Vermerk“ zur Jugendpolitik eine bekannte afrikanische Weisheit. Zu einem Dorf gehört aber sehr vieles mehr, als die staatlichen Bildungs- und Erziehungsinstitutionen.
4. Vorbehalte gegen Jugendamt und Jugendhilfe abbauen; für die Aufgabe, auch und gerade Eltern zu erreichen, die – sei es aus persönlichen Erfahrungen oder aufgrund von Bildern und unbegründeten Ängsten – eine gewachsene und verwurzelte Distanz zum System Jugendhilfe haben, ist es weder zielführend, noch notwendig, mit einem Grundrechte einschränkenden familienrechtlichen Verfahren (BGB § 1666) zu drohen.3 Im Gegenteil. Erstens unterliegt ein solches Verfahren konkreten rechtlichen Voraussetzungen, die in jedem Einzellfall zu prüfen sind und nicht allgemein konzeptionell als neue „Umsetzungsregel“ zum Erreichen sozial- und jugendpolitischer Ziele eingesetzt werden sollten. Zweitens hat Hamburg seit Jahren gute und erfolgreiche Wege beschritten, Vorbehalte auch bei den kritischen Zielgruppen abzubauen und ihnen passende niedrigschwellige Zugänge zum Jugendhilfesystem zu eröffnen. Diese Erfolge sollten nicht aufs Spiel gesetzt werden; Vertrauen herzustellen ist eine schwierige und langwierige Aufgabe.
                                                                             Joachim Gerbing, Maria Kalde, Manuel Essberger
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1 Unter Punkt 3.1 Abs. 2 lesen wir in dem Papier der BASFI: „Die Hilfen sollen grundsätzlich nicht als Einzelmaßnahmen innerhalb der Familienwohnung stattfinden“.
2 Ein Kind, das die Schule als „fremde Welt“ – oft als kulturell „gegnerisch“ gegenüber der eigenen Familie und dem eigenen Leben – wahrnimmt, wird sich in der persönlichen Loyalitätsfrage, vor die das System es dann stellt, fast immer für die „eigene“ Familie und damit gegen die „fremde“ Institution entscheiden. Dieses Phänomen ist ein wesentlicher Faktor für die verbreiteten Probleme der Schulen mit Kindern der „bildungsfernen Milieus“, die nun Schritt für Schritt aus den Förderschulen in die Regelschulen inkludiert werden müssen.
3 Unter Punkt 3.1 Abs. 4 lesen wir: „Sofern Erziehungsberechtigte nicht bereit sind, (...) an Maßnahmen (...) teilzunehmen, (...) muss nötigenfalls die Hilfe des Familiengericht nach § 1666 in Anspruch genommen werden.“

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