Wirkungsvolle Jugendhilfe Hamburg

Donnerstag, 13. Oktober 2011

Prof. Münder zu den Neuen Hilfen

Bessere Kinder- und Jugendhilfe ist preiswerter – oder: Abbau
von Leistungen und Rechten
Wer Anfang Juni auf dem Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag aufmerksam war,
der hätte bei der Überschrift des Fachforums „Eine bessere Kinder- und Jugendhilfe
ist die preiswertere“ stutzen können. Dort hatte der Staatsrat (entspricht einem
Staatssekretär) Pörksen der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration
der Freien und Hansestadt Hamburg 10 Thesen vorgestellt, die die in der Überschrift
dieses Fachforums verkündete These untermauern sollte. Damals war das aber
nicht allzu sehr aufgefallen, denn es dauerte etwa bis Mitte Juli, bis die Erregung in
der Kinder- und Jugendhilfe anrollte. Bekannt wurde nämlich ein Antrag zum Thema
„Wiedergewinnung kommunalpolitischer Handlungsfähigkeit zur Ausgestaltung von
Jugendhilfeleistungen – Änderung des Kinder- und Jugendhilferechts (SGB VIII)“ für
die Koordinierungssitzung der A-Staatssekretäre (das sind die Staatssekretäre der
SPD-Seite) am 13.05.2011 in Berlin. Und es dauerte noch einmal etwa einen Monat
bis durch den Artikel der TAZ „Kurswechsel befürchtet“ vom 12. August 2011 auch
eine allgemeine interessierte Öffentlichkeit davon erfahren konnte.
Um was geht es?
Abgesehen von einigen eher anekdotenhaft zu kommentierenden Ausführungen
wird nach einer sehr groben und selektiven Problembeschreibung die Zielrichtung
einer Gesetzesänderung skizziert. Um die nach Ansicht des Autors insbesondere
durch die Ausgaben für die Hilfen zu Erziehung (lt. Papier 7 Milliarden für ca.
810.000 Kinder und Jugendliche im Jahre 2010) verloren gegangene
kommunalpolitische Handlungsfähigkeit bei der Kinder- und Jugendhilfe zurück zu
gewinnen wird als Lösungsweg skizziert:
- Den Rechtsanspruch auf Hilfen zur Erziehung vorrangig durch eine
„Gewährleistungsverpflichtung des öffentlichen Jugendhilfeträgers zu
erbringen, den Rechtsanspruch „durch ein verpflichtendes infastrukturelles
Angebot“ zu erfüllen;
- mit einer „rechtlichen Erweiterung“ eine rechtliche Grundlage zu schaffen,
die es ermöglicht „sozialräumliche Versorgungsverträge mit Trägern abzuschließen, die nach gegenwärtiger rechtlicher Ausgestaltung durchhöchstrichterliche Rechtssprechung nicht zulässig ist, weil im SGB VIII
keine entsprechende Rechtsnorm besteht“;
- die Rechtsgrundlagen in der Heimerziehung so zu verändern, dass „bei auf
Dauer ausgerichteten Angeboten die Unterbringung in familienähnlichen
Betreuungs-Settings mit teilprofessionalisierten Pflegefamilien geschehen
soll“, um damit den starken „Anstieg der stationären Erziehungshilfe
(Heimunterbringung als teuerste Angebotsform) … schrittweise durch
kostengünstigere und fachlich sinnvollere Lösungen“ zu ersetzen.
Was bedeutet das?
1. Gewährleistung statt Rechtsanspruch
Die Ablösung des Rechtsanspruchs durch eine Gewährleistungspflicht des
öffentlichen Trägers – oder wie das Staatssekretärepapier verschleiernd formuliert
„den Rechtsanspruch vorrangig durch eine Gewährleistungsverpflichtung des
öffentlichen Trägers zu erbringen“, - bedeutet nicht mehr und nicht weniger als die
Aufgabe eines subjektiven, individuellen von den Leistunsberechtigten einklagbaren
Rechtsanspruches durch eine sogenannte objektive Rechtsverpflichtung des
öffentlichen Trägers. Subjektive Rechtsansprüche zeichnen sich dadurch aus, dass
bei Vorliegen der im Tatbestand beschrieben Voraussetzungen Ansprüche auf
Leistungen gegen den öffentlichen Jugendhilfeträger bestehen, unabhängig davon,
ob der öffentliche Träger dies jugendhilfepolitisch will und unabhängig davon, ob er
hierfür (hinreichende) Finanzmittel zur Verfügung gestellt hat. Deswegen können die
Bürgerinnen und Bürger auch ihre subjektiven Rechtsansprüche einklagen.
Objektive Rechtsverpflichtungen unterscheiden sich dadurch, dass sie nur eine
Aufgabenzuweisung bedeuten und den öffentlichen Jugendhilfeträgern ermöglichen
auf dem entsprechenden Gebiet tätig zu sein. Die Träger der öffentlichen
Jugendhilfe haben hier regelmäßig einen weiten Gestaltungsspielraum. Bei
Nichttätigkeit oder bei minimalisierter Aufgabenwahrnehmung wäre dies ein
Rechtsverstoss gegen objektives Recht. Rechtsverstösse gegen objektives Recht
können jedoch nicht von den Bürgern individuell vor den Gerichten verfolgt und
durchgesetzt werden, sie können (und tun dies äußerst selten) nur das Tätigwerden
der Rechtsaufsichtsbehörde auslösen1, ermöglichen aber gerade nicht die Einleitung
eines Verwaltungs- und ggf. eines späteren Gerichtsverfahrens2.
2. Sozialräumliche Versorgungsverträge statt subjektiven Rechtsansprüchen
Unter Zuhilfenahme der Stichworte der Lebensweltorientierung und des gemeinwesenorientierten Handelns als Arbeitsprinzip versteht sich die Sozialraumorientierung als eine Aufhebung der Versäulung der Leistungen in der Kinder- und Jugendhilfe3. Ein zentraler Aspekt der Soziaraumorientierung sind die
genannten sozialräumlichen Versorgungsverträge, die zwischen dem Träger der
öffentlichen Jugendhilfe und nur einigen exklusiv ausgewählten Leistungserbringern
abgeschlossen werden sollen. Diese sind bisher regelmäßig rechtlich gescheitert4.
Im Übrigen – und das sei beratend den Autoren des Papieres gesagt – sind sie
rechtlich nicht nur am SGB VIII gescheitert, sondern aus verfassungsrechtlichen
Gründen5.
3. Teilprofessionalisierte Pflegefamilien
Mit dem Stichwort der teilprofessionalisierten Pflegefamilien anstelle der
(vollprofessinalisierten) Heimunterbringung wird schließlich die Stossrichtung des
Vorhabens besonders deutlich: Es soll billiger werden. Mit dem Stichwort
teilprofessionalisierte Pflegefamilie versus vollprofessionalisierte Heimunterbringung
geht es in erster Linie um eine fachliche Auseinandersetzung. Diese hat allerdings
auch eine Auswirkung auf rechtliche Aspekte, denn nach § 27 Abs. 1 SGB VIII ist die
Hilfe zur Erziehung zu erbringen, die die fachlich geeignete Hilfe ist. Und hier lässt
sich jedenfalls nicht mit Kostenbegründung die vollprofessionalisierte
Heimunterbringung durch teilprofessionalisierte Pflegefamilie ersetzten, sondern es
müsste schon dargelegt werden, dass für das ganz konkrete Kind im Einzelfall die
teilprofessionelle Pflegefamilie die geeignete und notwendige Hilfe ist.
Die Abschaffung eines Rechtsanspruches auf Hilfe zur Erziehung und die Ersetzung
durch einen nur objektivrechtliche Gewährleistungsverpflichtung würde nicht nur
eine grundlegende Änderung des SGB VIII bedeuten, sondern wird auch hinter den
Rechtszustands des JWG zurückfallen, das ja auch bereits den subjektiven
Rechtsanspruch auf individuelle Hilfen kannte. Die Ablösung des Rechtsanspruches
durch sozialräumliche Versorgungsverträge wird nicht durch die Änderung des SGB
VIII ermöglicht, sondern hierzu bedürfte es einer entsprechenden
Grundgesetzänderung. Und bei allem Respekt vor der Kinder- und Jugendhilfe: dass
sich hierfür eine 2/3 Mehrheit im Bundestag und Bundesrat findet ist doch sehr
unwahrscheinlich. Etwas heftiger würde sicherlich die Auseinandersetzung unter
dem Stichwort der teilprofessionalisierten Pflegefamilien laufen, denn hier geht es in
erster Linie um die Sicherung und die Aufrechterhaltung fachlicher Standarts, die nur
sekundär auf rechtlicher Ebene ausgetragen wird.
Insofern könnte man sich – zwar weiter aufmerksam beobachtend – gelassen
zurücklehnen.
Welche Grundverständnisse stehen dahinter?
Derartige Vorstöße müssen jedoch Anlass sein sich mit den hinter den Einzelaspekten liegenden grundlegenden Verständnis von Kinder- und
Jugendhilfepolitik, Kommunalpolitik und Kinder- und Jugendhilferecht zu befassen,
denn es handelt sich nicht nur um eine singuläre Position eines Staatssekretärs,
sondern in Teilbereichen stossen sie durchaus auf eine breitere Resonanz.
Die unterschiedlichen grundlegenden Vorstellungen lassen sich unter zwei
Stichworte fassen, die in einem engen Zusammenhang stehen:
1. Infrastruktur statt Rechtsansprüche
Das SGB VIII selbst bewegt sich in dem Spannungsverhältnis zwischen den
subjektiven Rechtsansprüchen von Individuen die ggf. auch gegen (die
Leistungsträger der öffentlichen Jugendhilfe) durchgesetzt werden können und einer
(auf subjektiv rechtlicher Ebene nicht durchsetzbaren) infrastrukturellen
Verantwortung, die den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe auferlegt, die
Einrichtungen und Dienste zur Verfügung zu stellen, die notwendig sind um
entsprechende Leistungen erbringen zu können. Dieses Spannungsverhältnis
zwischen Rechtsanspruchspolitik und Infrastrukturpolitik ist der Kinder- und
Jugendhilfe immanent. Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte insbesondere seit
dem SGB VIII haben stets auf die Strategie eines Ausbaus von Rechtsansprüchen
gesetzt, besonders deutlich im Bereich der Kindertagesbetreuung.
Der Spielraum für eine kommunale Infastrukturpolitik wurde und wird, je nach
fachlichen und politischen Anspruch der einzelnen öffentlichen Jugendhilfeträger,
ganz unterschiedlich wahrgenommen, ja er verkommt bisweilen zu einer
vernachlässigbaren Größe. Und es ist nicht zu verkennen, dass an nicht
wenigen Orten der Zusammenhang zwischen individuellen Einzelleistungen und
einer entsprechend fachlichen Infrastruktur nicht (mehr) erkannt wird. In diesem
Zusammenhang ist es ein Verdienst der Sozialraumorientierung auf diese
Zusammenhänge hingewiesen zu haben.
Die „Lösung“ dieses Spannungsverhältnisses allerdings in dem Weg zu sehen, dass
Rechtsansprüche reduziert, gar aufgehoben werden und stattdessen eine nur
objektiv rechtliche Gewährleistungsverpflichtung bestehen bleibt, ist sicherlich nicht
der richtige Weg. Erfahrungen in allen Sozialleistungsbereichen – nicht nur in der
Kinder- und Jugendhilfe – zeigen, dass mit dem Abbau von Rechtsansprüchen ein
entsprechender Ausbau von Infastruktur, von Gewährleistungsverpflichtungen nicht
verbunden ist, vielmehr wird dann Infastrukturpolitik nach kommunalpolitischen
Vorstellungen und konkreter Haushaltslage wahrgenommen. Und das bedeutet
faktisch immer: reduziert gegenüber den – ja ggf. eben gerichtlich durchsetzbaren –
subjektiven Rechtsansprüchen. Insofern würde Infrastruktur statt Rechtsansprüche
in der Tat zu einer „preiswerteren“ Kinder- und Jugendhilfe führen. Aber eben
dadurch, dass nicht anstelle der Mittel für die Erfüllung von Rechtsansprüchen nun
entsprechende Mittel für Infrastrukturen ausgegeben wird, sondern schlicht und
ergreifend dadurch, dass dann auch eben weniger Mittel im Bereich von infastrukturellen Gewährleistungen ausgegeben werden.
2. Planung statt Leistungsberechtigung
Durch subjektive Ansprüche begründete Rechte von Leistungsberechtigen sind
„widerborstig“ zur Planung. Denn durch Rechtsansprüche begründete
Leistungsberechtigungen sind völlig unabhängig davon, was auf der jeweiligen
kommunalen Ebene unter – ja auch ganz unterschiedlichen – kommunalpolitischen,
jugendhilfepolitischen Optionen geplant wird.
Leistungsberechtigungen sind zu erfüllen, wenn die im Gesetz festgelegten
Voraussetzungen vorliegen, völlig unabhängig davon, ob dies kommunalpolitisch in
der Planung vorgesehen ist oder nicht. Dass ist ja gerade die Stärke von durch
Rechtsansprüchen verbürgte Leistungsberechtigungen, dass sie unabhängig sind
von dem, was gerade vor Ort kommunalpolitisch gewollt wird. Damit engen
Leistungsberechtigungen natürlich jugendhilfepolitische Planung ein. Und von daher
gab es schon immer das Bemühen einer planungsorientierten Kommunalpolitik
Rechtsansprüche so gering wie möglich zu halten.
Solange es durch Rechtsregelung begründete Leistungsberechtigungen gibt sind die
Leistungsberechtigten rechtlicher Dreh- und Angelpunkt der Kinder- und
Jugendhilfepolitik – auch wenn die alltägliche Praxis und Umsetzung vor Ort dies
manchmal vergisst. Es mag ja verständlich sein, dass die Planer der Kinder- und
Jugendhilfe lieber sich als den Dreh- und Angelpunkt der Kinder- und Jugendhilfe
sehen. Aber man sollte nicht vergessen, dass die ganze Veranstaltung der Kinderund
Jugendhilfe nicht um der kommunalpolitischen und jugendhilfeplanerischen
Akteure stattfindet, sondern um der leistungsberechtigten Kinder, Jugendlichen und
ihrer Familien willen. Auch wenn die Realität davon entfernt sein mag, so gilt es
nicht, die rechtliche Anwendung des Kinder- und Jugendhilferechts dieser Realität
anzupassen. Vielmehr muss dafür gesorgt werden, dass die Realität ein kleines
Stück näher an die rechtlichen Vorgaben des Kinder- und Jugendhilferechts
herangeführt wird.
Kein Grund zur Unruhe?
Nun ist der Hamburger Vorstoß des Juristen Pörksen auch ein juristisch
handwerklich missglückter Versuch. Das zeigt sich besonders deutlich dort, wo
gemeint wird mit Hilfe der Änderungen des SGB VIII die verfassungsrechtlichen
Vorgaben außer Acht lassen zu können. Insofern könnte man über diesen
untauglichen Versuch hinweg gehen. Allerdings haben Beispiele aus jüngster Zeit
gezeigt, dass auch inhaltlich unsinnige Vorstellungen in handwerklich schlechter
Umsetzung Gesetz werden können.
Ein Beispiel dafür ist, das auch für die Kinder- und Jugendhilfe bedeutsame
Konstrukt der fixen von der Leyischen Idee des Bildungs- und Teilhabepakets nach
§ 29 Abs. 7 SGB II (bzw. entsprechend für die Sozialhilfe in § 34 Abs. 7 SGB XII):
der Gemeinschaft“, die sich auf Mitgliedsbeiträge, Unterricht in künstlerischen
Fächern, Teilnahme auf Freizeiten beziehen ist nicht nur in der Praxis ein
Rohrkrepierer geworden, sondern ist auch juristisch ein bemerkenswertes Konstrukt.
Denn in dem folgenden § 29 SGB II (bzw. § 34a SGB XII), der sich mit der konkreten
Erbringung dieser Leistung für Bildung und Teilhabe befasst, wird formuliert, dass
„die Leistungen mit Ausgabe des jeweiligen Gutscheines als erbracht“ gelten (§ 29
Abs. 2 Satz 1 SGB II). Zwar ist anschließend dann noch davon die Rede, dass die
kommunalen Träger gewährleisten, dass die Gutscheine bei geeigneten
vorhandenen Anbietern eingelöst werden können. Zugleich aber stellt die
Gesetzesbegründung klar, dass damit kein Sicherstellungsauftrag des
Leistungsträgers verbunden ist6, was bedeutet, dass er nicht dafür haftbar gemacht
werden kann, ob überhaupt derartige Gutscheine tatsächlich eingelöst werden
können. Es bleibt damit den Betroffenen selbst überlassen, ob sie irgendwo und
irgendwie ihre Leistungen bekommen können.
Damit wird erkennbar, was noch Weiteres auf dem skizzierten Weg möglich ist:
Nicht nur keine Rechtsansprüche, sondern auch kein Sicherstellungsauftrag.
Deswegen besteht Grund genug sorgfältig zu beobachten, wie sich die Diskussion
weiter entwickelt und welche weiteren politischen Initiativen erkennbar werden.

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1 Vgl. dazu Schäfer in Münder u.a. Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, 6. Aufl.
2009 § 69 Rn.10.
2 Ausführl. zum gesamten Zusammenhang, vgl. Münder/Trenczek Kinder- und
Jugendhilferecht, 7. Aufl.,2011, 43ff.
3 Ausführl. Hinte u.a. Vom Fall zum Feld, 1999.
4 Vgl. zuletzt mit einem Überblick über die einschlägige Rechtssprechung
Münder, Wieder einmal: Sozialrahmenorientierung auf dem rechtl. Prüfstand,
in JAmt 2011, 69ff.
5 Damit hat sich ausführlich die Entscheidung des OVG Niedersachsen ausein-
andergesetzt – vgl. dazu die Ausführungen von Münder in JAmt 2011, 69ff.
6 BT-Dr. 17/3404, S.107.

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